Ist »OZ« Kunst? Was ist Kunst, wenn OZ Künstler ist?
»Viele Gesichter«, Smileys und Spiralen – ein Prolog
Aufmerksame Flaneure in Hamburg entgehen ihnen kaum. Den Smileys, den eleganten »OZ.«-Tags, den spinnenwebartigen Spiralen – nicht sonderlich aufregende Zeichen an sich, elementar, aufs Äußerste reduziert, schwarz. Mit der leisen Hartnäckigkeit des Einfachen besetzen sie Wände, Mauern und vergessene Objekte der großen Stadt. Legionen sind es inzwischen. An sorgsam freigelegten Orten erholen sie sich in einer Explosion farbenfroher Üppigkeit, bunte Oasen in der grauen Stadtwüste. 30 Jahre Arbeit des Hamburger Sprayers OZ und seiner Epigonen, kaum unterscheidbar die Hände. Kunst?
Eine rote Linie schlängelt sich breit und behäbig zwischen einer grünen und einer blauen Linie. Die grüne verdrückt sich nach unten, die blaue verschafft sich Luft nach oben, drückt zwei kleine blaue Kreise nach unten, die grüne wirft ein grünes Auge nach oben, sieht sich das Desaster an. In veränderlicher Stärke mäandern die drei Farbströme durch ein hochformatiges Rechteck, borden über es hinaus, lassen sich von kräftigen schwarzen Linien segmentieren und einfassen wie farbige Elemente eines Bleiglasfensters. Gelbe Punkte belichten gleichmäßig das schwarze Raster, schwarze Punkte markieren das Weiß, welches hier und da durch das schwarze Gitter hindurchleuchtet. Zwei große gelb vergitterte Augen haben sich links und rechts vom blauen Strom Hoheitsrecht verschafft, das kleine grüne Auge fügt dem großen Blick einen kindlich-weichen Ton hinzu, das Augenweiß blitzt den Betrachter unmissverständlich an. In der unteren Bildmitte ein vergitterter gelber Kreis um einen Kern mit schwarzem Punkt. Der offene Mund zu dem entstellten, durchfurchten Gesicht? Besorgt und traurig, aber auch liebevoll blicken die Augen durch ihr Gitter auf das leerelose Drängen und Wuchern. Was bricht sich Bahn, was bricht durch? Das Bild als Bild ist in sich meisterhaft ausbalanciert, formal, farblich, rhythmisch. OZ sprüht es 2012 in wenigen Stunden auf eine Leinwand. Er nennt es »Viele Gesichter«. Viele andere »Gesichter« gingen diesem Bild voraus, begleiten es, werden ihm folgen, bekommen Namen wie »Einsamer Smiley«, »Kreative, farbige, ursprüngliche Natur«, »Der Grüne Gott«. Kunst?
Viele Gesichter
Der Sprayer von Hamburg –
Vom »Schmierfink« zum »Künstler«?
Ein Sprayer besprüht Hamburgs Mauern. Seit mehr als 30 Jahren tut er das, Nacht für Nacht, wenn ihn nicht gerade Gefängnismauern davon abhalten. Jetzt tun sie das nicht mehr, mittlerweile sprüht er auch auf Leinwände, die in Galerien ausgestellt werden, und es könnte sein, dass er ein »Künstler« ist. »Künstler« lassen sich jedoch in dieser Gesellschaft nicht so einfach wegsperren. Also würde es zu seinem Vorteil gereichen, »Künstler« zu sein. Ob er das will, ist eine andere Frage. Und eine weitere, ob sein Werk die Kategorie »Kunst« verträgt.
Bisher wurde die Arbeit von OZ überwiegend juristisch und politisch thematisiert, im Kontext der linken Kritik der Privatisierung des öffentlichen Raums als Paradebeispiel mit Opferimage, für Instrumentalisierungen durchaus geeignet. Betrachtungen von OZ’ Werk als Kunst haben – über ein kunstwissenschaftliches Gerichtsgutachten von Gunnar Gerlach hinaus – kaum stattgefunden. Und das, obgleich es bereits seit 2009 Ausstellungen von OZ-Bildern gab, und sogar ein Gericht in einem Urteil 2012 die Möglichkeit eingeräumt hatte, dass es sich bei OZ’ Sprühen im öffentlichen Raum möglicherweise um Kunst handle. Den Stimmungswandel spiegelnd, lassen Öffentlichkeit und Medien wie die Hamburger Morgenpost OZ allmählich »vom Schmierfink zum Künstler« avancieren. Doch weshalb schweigen bisher jene, die in dieser Gesellschaft den kunstwissenschaftlichen und kunsthistorischen oder philosophischen Segen erteilen?
Eigentlich war die Verfasserin dieses Beitrags ausgezogen, mit fachspezifischen Instrumentarien aus kunstwissenschaftlicher Perspektive die Unbestreitbarkeit von OZ’ Werk als Kunst zu beweisen. Kunsthistorisch, -theoretisch und formalästhetisch eigentlich ein Leichtes. Und doch gerieten ihre Überlegungen in genau das Dilemma, in dem sich das Werk von OZ befindet, ja womöglich befinden muss, wenn es das tun will, was es tun will. »Viele Gesichter«. Ein Dilemma freilich, in dem sich wissenschaftliches Begreifenwollen dessen, was Kunst als Kunst ausmacht, von jeher befindet. Versucht Kunstgeschichte als wissenschaftliche Disziplin doch, kohärente Deutungen dort zu formulieren, wo das unauflösbar Mehrdeutige als solches ansichtig wird, und historische, soziokulturelle, strukturelle oder ästhetische Erklärungen dort zu finden, wo das Unerklärliche und anders nicht Ausdrückbare sich ausdrücklich weder verbal-diskursiv noch in mimetischer, Wirklichkeit nachbildender Form ausgedrückt hat, sondern eben unfassbar anders. Ist die Unersetzlichkeit genau dieses einen jeweiligen Ausdrucks, welches ein Individuum oder ein soziales Gefüge gefunden hat, nicht das Wesensmerkmal von Kunst schlechthin, und das bedingungslos?
Als OZ von diesem Buchprojekt hörte, fragte er, was wir denn da »mit ihm« machen, was wir »für uns« herausholen wollten. Der Telefonhörer knisterte vor Zwiespalt zwischen Misstrauen und Neugierde. Geschmeichelt fühlte sich OZ vielleicht wohl, aber war es das, was er wollte? Und ja, was wollten wir eigentlich?
Einsamer Smiley
Der Sprayer von Hamburg versus
die Sprayer von Zürich und New York
Weitet man den Blick über die Hamburger Stadtgrenzen hinaus und zurück in vergangene Jahrzehnte, dann fallen einem zum »Fall OZ« schnell Fall und Aufstieg des Züricher Sprayers Harald Naegeli ein. Wie OZ sprüht »Der Sprayer von Zürich« anonym, ungefragt und gegen das städtische Verbot seine Strichfiguren auf Züricher Mauern und Wände, in seinem »Kampf gegen die Monotonie der Städte«. 1979 wird er gefasst und 1981 zu neun Monaten Haft verurteilt. Vor dem Urteil in die Düsseldorfer Kunstszene geflohen, ergeht gegen ihn, dem Protest eines Willy Brandt zum Trotz, ein internationaler Haftbefehl. Naegeli wird an der dänischen Grenze gefasst und stellt sich schließlich der Schweizer Polizei, die liefert sich mit der Urteilsvollstreckung stur der eigenen Schmach aus. Denn längst hat die Kunstszene, mit Joseph Beuys als Wortführer, die Sprühzeichnungen von Naegeli zur Kunst erklärt. Der Einzug ins Gefängnis wird für Harald Naegeli zum Triumph. 2004 wird eine der letzten erhaltenen Strichfiguren Naegelis, »Undine«, vom Kanton Zürich restauriert.
Wann wird das erste Graffiti von OZ unter Plexiglas gesetzt? Weshalb findet sich für OZ kein Joseph Beuys? Auch Naegelis Figuren sind auf wenige Striche reduzierte schwarze Graffitis, rasch an die Wand gesprüht in der Hut vor der Polizei. Gewiss ein anderer Stil, gefälliger, charmanter, eleganter vielleicht. Es ist schwer zu sagen, ob sich an Naegelis Handschrift seine kunstakademische und universitär-psychologische Vorbildung erkennen lassen. Denn diese besitzt Harald Naegeli, ebenso wie die Eloquenz und den Willen zur Selbstreflexion: »Wo entschärft man Sprengsätze? Antwort: in kunsthallen, museen und galerien – tabufreie plätze von der gesellschaft listig und klug geschaffen: HIER darfst auch du etwas sagen lieber Künstler hier ist dein ort, hier ist dein plätzli!«, schreibt er 1979 in Mein Revoltieren, mein Sprayen. Eine akademische Referenz hat OZ nicht vorzuweisen, Auskünfte zu seinem Tun lässt er sich nur mühsam entlocken, er erzählt dann lieber, dass er eigentlich Frisör werden wollte.
Auch Keith Haring, ein Sprayer, der weit über das Graffitifach hinaus Kunstgeschichte geschrieben hat, bedient die kunstakademische sowie die selbstreflexive Ebene. Seine Graffitis um die zentrale Figur des »radiant baby«, inspiriert von den Graffitis in den New Yorker Suburbs, werden von der Kunstwelt sofort als Pop Art gefeiert. Harings sorgfältige Pflege des Publikumskontakts – er malt nicht anonym, sondern mit entfernbarer Kreide vor Publikum – und sein bewusst inszeniertes Engagement für die Popularisierung seiner eigenen Werke bringen ihm jedoch auch scharfe Kritik ein. Denn die Kunstszene fühlt sich als wertstiftendes Gremium übergangen: »Ich glaube, dass einige Kritiker gewissermaßen beleidigt sind, weil ich sie nicht gebraucht habe. Gerade mit den U-Bahn-Zeichnungen gelang es mir, an den ›sauberen Kanälen‹ vorbei, direkt auf die Leute zuzugehen und mein eigenes Publikum zu finden. … Ich überging sie und fand mein Publikum ohne sie. Sie hatten keine Chance, von dem, was ich tat, zu profitieren. Sie glauben, es wäre ihre Aufgabe, Künstler ausfindig zu machen und sie dann dem Publikum näherzubringen. … Ich trat ihnen sozusagen auf die Füße.«1
Wie OZ geht es Keith Haring nicht um eine künstlerische Distanzierung und Überhöhung, sondern im Gegenteil um den Sturm auf die Bastille der Kunst, um eine allen zugängliche ästhetische Umgestaltung der städtischen Lebenswelt, einen Sturm, welchen die europäische Avantgarde als künstlerische »Vorhut« im Kontext des Ersten Weltkriegs losgebrochen hatte: Um »eine ganzheitlichere und grundsätzlichere Idee, Kunst in jeden Lebensbereich integrieren zu wollen, weniger als eine egoistische Aufgabe und eigentlich natürlicher. (...) Sie vom Sockel zu holen. Ich gebe sie den Leuten wohl zurück.«2 Diesem Statement zum Trotz gerät Haring sofort auf das Kunstpiedestal und sein Werk hängt heute in den Museen der Welt. Wann hängt »OZ« in der Hamburger Kunsthalle?
Jean-Michel Basquiat, der Dritte in der Reihe der Streetartisten, die OZ an die Seite zu stellen hilfreich erscheint, stammt aus der Graffitiszene von New York. Er gehört zur aufsteigenden Mittelschicht und hatte das Glück, eine kunstinteressierte Mutter an seiner Seite zu haben, die ihn bereits als Kind mit ins Museum nimmt und auf eine Privatschule schickt. Bevor er seine Leinwandbilder als Jean-Michel Basquiat signiert, lanciert er im New York der 1970er Jahre eine gesellschaftskritische Aphorismen-Kampagne, für die er den Sprayernamen SAMO© wählt. Dabei setzt er sich allerdings als Afroamerikaner zugleich stilistisch und inhaltlich von der typischen Graffitiszene ab. Unzweifelhaft zeigt dieser junge Mann eine erstaunliche Intuition und natürliche Begabung. Doch kommen ihm ebenso gewiss seine umwerfende Schönheit und seine Ausstrahlung zur Hilfe, beides entgeht dem Pop-König Andy Warhol nicht, er wird fortan Jean-Michel Basquiats Förderer.
Und OZ? OZ sprüht »OZ.«: endlose Smileys und hartnäckig fordernde Buchstabenfolgen und Kringel, die dem Betrachter durchaus auch Mühe, Geduld und Toleranz abverlangen. Gefällig sind sie nicht, gefällig will OZ nicht sein. Sind sie deshalb nicht »gut«? Der gleiche OZ sprayt Mauergemälde und mittlerweile Tafelbilder, die tief berühren mit ihrer Mischung aus Buntheit und Harmonie, Trauer und Aufruhr, ihrer Sehnsucht nach Glück und Poesie. Die schüttelt er in kürzester Zeit aus dem Ärmel. OZ ist bestens geübt, denn »man musste so schnell arbeiten, wie man konnte. Und man konnte nicht korrigieren. Fehler konnte es also sozusagen gar nicht geben«, sagt Keith Haring. Eines ist klar: OZ ist nicht »schön«, OZ redet nicht gerne, auf jeden Fall nicht über seine Kunst, OZ hat keine akademische Ausbildung. Was er weiß und kann, und das ist beim genaueren Hinhorchen verblüffend, das hat er sich selbst beigebracht. OZ macht es einem wahrlich nicht leicht. Manchmal ist er einfach »ein garstiger alter Mann«, sagt liebevoll sein Galerist. Kann so einer »Künstler« sein?
Kreative, farbige, ursprüngliche Natur
Was ist »OZ«? –
Graffiti zwischen Vandalismus, Dekonstruktion und »Faith«
»The Faith of Graffiti«
Lassen sich Graffitis als Kunst begreifen? Oder wie müssten sie gestaltet sein, um als Kunst begriffen werden zu können? In seiner weitest gefassten Definition meint der Terminus Graffiti jede Form von »schriftlichen« Spuren auf Wänden und Gegenständen öffentlicher und privater Räume, das Eingekratzte, Hingekritzelte, »Writing«: Namen, Graphismen, Aphorismen und Parolen, wie sie sich bis in die frühesten Kulturen weltweit zurückverfolgen lassen. Menschen haben ein tiefes Bedürfnis, Spuren zu hinterlassen, die von ihrer Existenz, ihren Identifikations- und Leitbildern zeugen. In gemeinschaftlich geprägten Kulturen wie denen der prähistorischen Fels- und Höhlenmalereien ist das eher ein Bild, in individualistisch orientierten Schriftkulturen ein Wort, ein Name.
In den 1970er Jahren entsteht in der New Yorker Gang- und Hiphop-Szene eine Graffitibewegung, die sich wie ein Lauffeuer in der städtischen Welt ausbreitet, sich zu Street- und Urban Art erweitert und in vielfältigste Stile und Techniken ausdifferenziert. Die Faszination und das Ärgernis über die ersten in der Nacht mit Tags besprühten Züge, die durch das morgendliche New York fahren, können wir uns heute kaum noch vorstellen. Eine Ahnung davon geben die preisgekrönte Kultdokumentation Style Wars, 1983 mit Enthusiasmus von Rony Silver und Henry Chalfant gedreht, sowie Norman Mailers Essay The Faith of Graffiti von 1974, die erste und bis heute mit Abstand aufregendste Graffitireflexion. Das Schreiben des gewählten Sprayernamens, meist ein Pseudonym, eine Anspielung, eine Abkürzung – SAMO© bedeutet zum Beispiel »same old shit« – ist nach Norman Mailer als Akt des Glaubens zu verstehen, des An-die-eigene-Existenz-Glaubens und die eigene Existenz als Glaubensinhalt Setzens. »The name is the faith of graffiti«: Der Name schafft Existenz, das Wort schöpft Wirklichkeit. Sprache beschränkt sich nicht mehr auf das Beschreiben und Begreifen der Welt, sondern besinnt sich auf ihre weltschaffende Dimension und die damit verbundene Macht und Verantwortung. Ich bin, und ich bin hier, setze ein Zeichen, mein Zeichen, markiere mein Territorium. Norman Mailer sieht darin ein unbewusstes Anschließen des zeitgenössischen künstlerischen Ausdrucks an prähistorische Kunstpraktiken, ihre – im Fall der ersten New Yorker Graffitis – formelle Eindimensionalität und ihre existenziell-spirituelle Dimension. »I’ve created a cave painting«, bringt es der Streetartist Banksy auf den Punkt.
In diesen Horizont gehört auch die Wertigkeit der Gefahr, in die sich ein Sprayer bei seiner Arbeit begibt, der physischen, je nach Ort der Anbringung des Graffiti, und der Gefahr, von der Polizei erwischt zu werden. Denn Graffitis sind illegal. Dies ist ein Kriterium, welches als Identifikationskern der Streetart von der Aktivenszene hartnäckig verteidigt wird und von der Kunstwissenschaft bis dato meist übernommen wurde, doch mit zunehmender Heftigkeit umstritten ist.
Der Name oder die Kraft der Leere
Der gesellschaftskritische Aspekt ist allerdings ein spezifisch europäisch-neuzeitlicher. Nur in einer Kultur, in der die Individuation zur Vereinzelung in einer nicht mehr gemeinschaftlich funktionierenden Gesellschaft geführt hat, entsteht das Bedürfnis nach Selbstkonstitution, welche sich als exklusiver Ausdruck – »Kunst«? – vollzieht. »Graffiti Sprühen ist ein Weg zur Statusgewinnung in einer Gesellschaft, in der Eigentum erwerben bedeutet, eine Identität zu haben«, wird der Sprayer Chairman Martinez von Norman Mailer zitiert.3 Graffiti als Rückeroberung des öffentlichen Raums im eigenen Namen, nicht im bürgerlich registrierten, sondern in einem frei erfundenen, Freiheit verheißenden, Freiheit schaffenden Namen. »Künstler«- Namen?
Sich einen Namen machen. Scheint es – als exklusives Ziel und Motivationsmodus – nicht genau darum, nur noch darum zu gehen in der gegenwärtigen Gesellschaft?
Willem Kooning gibt Robert Rauschenberg ein Pastellbild, Rauschenberg radiert es aus und setzt seine eigene Signatur darauf. Da es jetzt »ein Rauschenberg« ist, kommt es dem Drucken eines Geldscheins gleich. »Autorität, auf Leere gedruckt, ist Geld«, kommentiert Norman Mailer diesen Akt.4 »Leere« definiert der französische Wortführer des »Aufstands der Zeichen«, Jean Baudrillard, geradezu als Signum der Graffitibewegung, »weil die Graffiti keinen Inhalt, keine Botschaft haben«. Medien, Produktions- und Distributionsweisen der Gesellschaft selbst haben die Graffitis der Moderne angegriffen: »Es ist diese Leere, die ihre Kraft ausmacht.«
Unbestritten mag diese gesellschaftskritische Stoßrichtung der Sprayer sein, doch wird sie ihrer ganzen Dimension, ihrer urtümlichen Intuition und Sensibilität gerecht? Öffnet sich nicht hier ein Abgrund von Ironie, wenn der Name allein genügt, wenn der Name das »Leer«-Gut ist? Ist ein Name leer oder lehrt er mehr? Oder wissen wir nicht mehr, was ein Name ist, und die Graffitikünstler haben sich auf die Suche gemacht?
Betrachtet man »OZ« aus dieser Perspektive und in der von Jon Naars Fotos der frühen New Yorker Graffitisprayer in The Faith of Graffiti, dann fällt ins Auge, wie nahezu alle oben genannten Aspekte auf »OZ« zutreffen. Auch die formelle Einfachheit, die »Kunstlosigkeit« seines Writings passen hierher, als wäre er den Ursprüngen der Graffitis der Moderne und ihrer Sinnsuche – bewusst oder unbewusst – treu geblieben. Denn dass er seine künstlerische Sprache weiterentwickeln kann, wenn er es will, oder es will, wenn er es muss, und das in kürzester Zeit, hat OZ in den vergangenen vier Ausstellungen in der OZM Gallery ausreichend bewiesen.
Kunst, Leid und Einsamkeit
Was die rechtsstaatliche Ordnung als »Vandalismus« versteht und verfolgt, fordert Streetart via Illegalität für sich ein und als Freiraum zurück, der nur als unfreier und also besetzbarer funktioniert. Diese fundamentale Verständnislosigkeit, dieses Sichbewegen außerhalb der Zonen der gesamtgesellschaftlichen Anerkennung ist konstitutiver Wider-Spruch und – über die Streetart hinaus – notwendig für die Funktion der Kunst in der neuzeitlich-bürgerlichen Gesellschaft seit dem revolutionären Umbruch am Ende des 18. Jahrhunderts. Kunst ist seitdem nicht mehr, wie in allen vorangegangenen Kulturen, ein integratives Element, welches Gemeinschaft stiftet und erhält und den Bezug zum Unsichtbaren, zum Jenseitigen herstellt. Die Kunst ist aus dem System gefallen und dient nunmehr als Projektionsraum für gesellschaftlich unerfüllbare Bedürfnisse und Sehnsüchte. Um diese befrieden zu können, muss der Künstler selbst aus dem Ganzen gefallen sein, als der »einsame Künstler«, zu dem er seither idealisiert und romantisiert wird. Das Leiden an der Kunst gehört nun selbstverständlich dazu. Kunstgeschichte wird Leidensgeschichte.
Dieses Bild des leidenden, von Armut und Ohnmacht geplagten Künstlers spukt auch in (Medien-)Geschichten rund um »OZ« herum. Es ist ein perverses Bild, in dem alle ihre Rolle spielen: Verfolger, Opfer und Beobachter, wie ein eingerostetes Repertoirestück aus dem absurden Theater, welches – ähnlich wie das seit Ende der 1950er Jahre in Paris Abend für Abend aufgeführte Stück Die kahle Sängerin (La cantatrice chauve) von Eugène Ionesco – seit Jahrzehnten Nacht für Nacht in Hamburg gespielt wird. Jeder kennt seine Rolle und nährt sich davon.
Kunst als Zerstörung
Ein solches Bild allein spräche im bürgerlichen Sinn allerdings für das »Künstlersein« von OZ. Nur hält OZ sich nicht an die Absprachen, denn entscheidend für die Kunstkonzeption dieses L’art-pour-l’art ist, dass der Künstler sich an die ihm zugewiesenen Räume hält. Genau dies tut OZ jedoch nicht, ebenso wenig wie die Kunst der Moderne das macht seit ihren Vorreitern Cézanne, Manet, Monet und van Gogh und vielen anderen, und, verschärft nach den erschütternden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, ganz radikal seit den Dadaisten und Surrealisten. Die Antwort auf totale Zerstörung kann zunächst nur das Wahrhaben und Wahrmachen dieser Zerstörung sein. In der Sprache des künstlerischen Ausdrucks bedeutet dies die Zerstörung und Aufspaltung der Formensprache in ihre Grundelemente.
Zerstörung, Verstörung und Verfremdung sind Grund und Abgrund der modernen Kunst. Kunst zeigt und ist ein Dilemma. Dementsprechend meint die Dekonstruktion des Kunstbegriffs Zerstörung als integrativen Akt der Kreation selbst. Auch das ist im Übrigen ein Grundzug prähistorischer und jenseits von Geschichtlichkeit sich bewegender sogenannter »primitiver« Kunst, deren Eigentliches nicht das ist, was als Artefaktum zu bleiben scheint und in Museen ausgestellt wird. Das, worum es hier geht, ist nicht aufbewahrbar, weil es sich im Moment des Gestaltwerdens ereignet und verzehrt.
In diesem Horizont lesen sich der »Vandalismus« der Streetart und das hartnäckige Bestehen von OZ auf seinem illegalen, selbstbestimmten Arbeiten anders und wahrlich aufregend. Es ist ein integrativer Teil dieser Kunst, selbst ständig der Vernichtung durch Zerstörung oder Übermalung ausgesetzt zu sein. Diesen Prozess hat OZ gemeinsam mit dem Künstler Darko Caramello auf dem Holzobjekt »Leidenschaft« 2013 exemplarisch im Galerieatelier OZM zelebriert. Mit ihren kontrastierenden und sich ergänzenden Handschriften übermalten sie ihre »Werke« tagelang immer wieder bis zur Ausstellungseröffnung, die dem Prozess ein Ende setzte.5 Übrig bleibt die Anmutung eines bunten Stadtmodells, in dem es sich womöglich ganz gut leben lässt. »Die Leidenschaft« und das Kämpfen um den Ruf, wer denn der Bessere unter ihnen sei, gehören zum Ehrenkodex der Graffitisprayer. »Fame« heißt das, Ruhm. »Wall of Fame« heißen ihre öffentlichen Ruhmeswände. Eine gelungene Umdeutung von Hollywood, die Situationisten lassen grüßen, der Witz ist bitterernst.
Das Einfache als Kategorie der Moderne
Die Dekonstruktion des Komplexen und des »Kunstvollen« der Kunst der Vergangenheit liefert ein weiteres Kriterium für die Kunst der Moderne: Die der Reduktion, oder positiv gesagt: die der Einfachheit, der Rückkehr auch in uralte, ursprüngliche Sicht- und Ausdrucksweisen. Natürlich stellt sich bei »OZ« die Frage, ob es nicht eigentlich »naive« Kunst sei, wie etwa im Fall des Zöllners Henri Rousseau, wobei dies Adjektiv stets etwas Abwertendes hat im Sinne von »ganz nett«, aber ungebildet – und somit nicht richtig ernst zu nehmen. Gerade zu »OZ« gibt es im akademischen Umfeld entsprechende Reaktionen, seinen Arbeiten fehle das Konzeptionelle. Doch eine derartige Zuordnung ist gerade im Rahmen der Kunst der Moderne unangemessen und sinnentleert, denn genauer betrachtet wären ein Großteil ihrer anerkannten Vertreter dann »naive« oder »primitive« Künstler. Gerade kunstakademisch geprägte Bildende Künstler wie Paul Gauguin, Paul Cézanne und Picasso suchten und fanden bahnbrechend moderne Inspiration in der Kunst der sogenannten »Primitiven«, gemeint war die außereuropäische und frühe europäische Kunst, die damit allererst zur »Kunst« avancierte.
Begriffe wie »naiv« und »primitiv« führen nicht weiter, es sei denn, sie meinen – wertschätzend – die Rückkehr zum Ursprünglichen, Direkten, Intuitiven, Unfassbaren. Dann wären auch Keith Haring und Jean-Michel Basquiat »primitive« oder »naive« Künstler im genauen Sinne des Wortes. Ihnen und OZ ist die Kategorie der einfachen Formen- und Farbsprache bei aller Verschiedenheit gemeinsam. Während Basquiat sich zwischen expressionistischer Uferlosigkeit und Reminiszenzen an schwarzafrikanische Volkskunst bewegt, reduzieren Haring und OZ ihre Formen auf Grund- und Umrisslinien, die das Figürliche noch zulassen, jedoch nicht mehr ganz meinen, es bis an die Grenze zum Abstrakten drängen, eine universell verständliche Zeichensprache, eine populäre Semiotik entwickeln.
Aus pragmatischer Sicht fördert dies die für den Streetartisten unabdingbare Lesbarkeit und Schnelligkeit seiner Arbeit. Und wie für Haring ist auch für OZ der Horror vor der Leere maßgebend für sein gesamtes Werk, auf der Straße und in der Galerie: Der ganze Raum eines Bildes wird lückenlos ausgefüllt, so wie der Stadtraum seit Jahrzehnten zu einem Dschungel zusammen- und überwachsen ist. Dem entspricht die Unaufhörlichkeit ihres Arbeitens, deren manischer Aspekt unübersehbar ist. OZ ist in Not, malt aus Not, erzählt von der Not, von seiner eigenen, und die ist unsere.
Mann und Frau sind glücklich
Smileywelt
Auch die Smileys von OZ erzählen davon. In ihnen, oder genauer seiner Deutung derselben, adaptiert und zweckentfremdet OZ das Smiley einerseits als Symbol der zeitgenössischen digitalen Zeichensprache, andererseits als weitestmögliche universelle Reduktion des menschlichen Gesichts. Nicht nur auf Mauerwänden erscheinen sie tausendfach in feinen Varianten, deren Nuancen subtil zwischen Lachen und Grimasse schwanken, sondern versteckt, offensichtlich oder übermächtig groß seit wenigen Jahren auch auf Leinwänden. »Blick ins All«, »Grüner Gott und Sonne«, »Kreative, farbige, ursprüngliche Natur«, »Der Mond schien hell«, »Einsamer Smiley«, »Die Maske à la Afrika«, »Ozelon« heißen sie. Außerirdische, Dämonen und Götter glotzen, blicken neugierig, traurig, ernst. Gesichter schreien, fürchten sich, sind einsam.
Diese bedrohliche Zwiespältigkeit, die ungemütliche Sehnsucht nach Wohlsein und Glück ziehen sich laut bis leise durch OZ’ gesamte Bild- und Zeichenwelt, Graffitis, Mauergemälde und Galeriebilder. Seine rohen, »kunstlos« gestalteten Buchstabenkombinationen entziehen sich nicht nur jedwedem Kunstbegriff am radikalsten, sondern auch der Dechiffrierung durch nicht zur Szene Gehörige. Sie agieren somit als Warnung und Hoffnung, da sei etwas, was wir nicht wissen. Die potentielle Naivität von OZ’ handgefertigter Smileylegion steht immer schon auf der Kippe zur Grimasse, macht die inflationäre Grimasse der industriellen Smileyheere sichtbar und gibt dem Lächeln eine Chance.
»Mann und Frau sind glücklich«: Zwei gelbe und zwei grüne Smileys, diagonal angeordnet, lächeln aus einem schwarzen, violett gefüllten Netzwerk den Betrachter an, aus dem Bild heraus, nicht sich an. In sicherem Abstand zum Betrachter, zu- und voneinander, durch Bahnen getrennt, in Bahnen festgehalten oder gesichert. Frau in ihrem, Mann in seinem Raum. Doch wer ist sie, und wer ist er? Oder geht es ums »und«? Plätze könnten »es« sein, Gemeinplätze, Sammelplätze zwischen Straßen. Das Heer von Punkten, welches jedes Bild von OZ durchzieht, schwarze Schneebälle oder Granaten, weiße Schneeflocken, vielleicht einfach Elementale, die sagen, dass nie nichts ist. Gleichmäßig-rhythmisches Schwingen von Atomen und Molekülen. Ein blauer Fluss schlängelt sich unbegradigt durch den Stadtplan. Sind »Mann und Frau« glücklich?
»Der Mond schien hell«
Jeder, der die Smileysprache kennt, weiß, dass ein winziger Strich das Smiling aus der Fassung bringen kann. Lächeln verzerrt sich blitzartig zum Schrei. Seit Edvard Munch gibt es viele »Schreie«, ein subtil erschreckender stammt von OZ. Eine über die Bildränder drängende grüne Wiese, von einer Herde augenförmiger Blumen besetzt, oder auch grüne amöbenförmige Felder mit gleichmäßig darin schwimmenden Einzellern oder Augen, werden mäandernd eingedämmt oder unterbrochen von einem schwarz umrandeten gelben Strom mit blauen Punkten. Das Ganze ist waagrecht durchzogen von schmalen blauen Strichen. Was aus der Nähe dieses zwei Quadratmeter großen Bildes wie der Ausschnitt aus einer fröhlichen Landschaft wirkt, kippt mit der Entfernung jedoch um und entpuppt sich als ein verzerrtes mundloses Gesicht. Zwei Augen schreien. Der Mond scheint auf Sprayer und ihre Verfolger. Spendet Licht und verrät sie. »Der Mond schien hell« heißt dieser Schrei. »Der Schrei« schlechthin, so empfindet es der Galerist Alex Heimkind.
Der Mond schien hell
Eindimensionalität und Zentralperspektive
Das vordergründig Eindimensionale in OZ’ Bildwelt hütet sich offensichtlich vor der Begrenzung der Wahrnehmungsoffenheit durch das zentralperspektivisch Fixierte der europäischen Kunst. Tatsächlich entwickelte diese als Einzige innerhalb der Weltkunst die zentralperspektivische Darstellung und machte sie zum Maßstab der Bildenden Kunst. Damit wird das Mimesis-Postulat der aristotelischen Antike absolut gesetzt und die nachahmende Abbildung der homozentrisch erfassten Wirklichkeit für Jahrhunderte zur Aufgabe der Kunst erklärt. Diese abendländische Zentralperspektivik findet seit der italienischen Frührenaissance zur Meisterschaft, begleitet als Spiegelung und forciert als Instrument die technische und politische Beherrschung der Welt durch den Homo Faber. Nicht-zentralperspektivische Darstellungsweisen, wie sie zuvor galten und zeitgleich im außereuropäischen Kulturkreis üblich waren und mancherorts noch sind, haben noch heute die Tendenz, als »nur kindlich«, naiv oder „einfach“ ornamental wahrgenommen zu werden. Gleichwohl knüpft die gesamte Kunst der Moderne genau hier an bzw. zurück und setzt damit einen kritisch-dekonstruktiven Kontrapunkt gegen die herrschende euro- und homozentrische Weltanschauung. Sie setzt da an, wo Kunst Fenster zur unsichtbaren, ungreifbaren und also nicht abbildbaren Wirklichkeit wird. Vielleicht ein Fenster der Hoffnung, dass das Foto-Klischee der »Wirklichkeit«, auf die sich die europäische Neuzeit geeinigt hatte, nicht alles sei? OZ’ Bilder als Schaltpläne zu einer anderen Wirklichkeit?
Dass OZ sich ganz bewusst für eine nichtperspektivische Darstellung entscheidet, wird ahnbar in den Werken, die er 2013 gemeinsam mit dem Graffitikünstler Daim erarbeitet hat. Über Daims exzessiv perspektivisch gearbeitete Zerklüftungen, die das Zentralperspektivische in sich zusammenbrechen lassen, zieht OZ konsequent seine »perspektivlose« Bildsprache, die sich – über den stilistischen Gegensatz hinweg – harmonisch einfügt und dazwischenschiebt. »Keine Kapitulation« und »Seid umschlungen« heißt das dann?6
Ornament – und Verbrechen?
OZ’ Bildwelt besitzt neben ihrer Einfachheit etwas durchaus Ornamentales, ohne es je ganz zu sein, figürliche Assoziationen schweigen nie ganz. Und die Stadt schmücken, die Stadt verschönern zu wollen, das benennt OZ ganz ausdrücklich als sein Hauptmotiv. Auch wenn oder gerade weil seine Selbstermächtigung zum Stadtdekorateur von der Justiz als Verbrechen eingestuft wird. In diesem Zusammenhang ist durchaus bemerkenswert, dass auch das Ornamentale, das Schmückende in der europäischen Kunstentwicklung als ein verzichtbares »Nur« einen schlechten Ruf bekommen und behalten hat. Nachdem es im späten 19. Jahrhundert tatsächlich behäbig wuchernde Stilblüten getrieben hatte, dekonstruierte Adolf Loos im Wien der dekadenten Monarchie das Ornament als »Verbrechen« und konfrontierte 1910 die prunkvoll behäbige Fassade der Hofburg am Michaelerplatz mit der ernüchternd schmucklosen Fassade seines »Looshauses«, woraufhin Kaiser Franz Joseph für den Rest seines Lebens die Gardinen zuziehen ließ. Schnörkel und Schwulstigkeit verschwanden weitgehend in der Kunst der Moderne, das Ornament blieb verdächtig. »Ornament« klingt immer noch nach Dekor, nach überflüssigem oder sogar störendem Zusatz, nach Kunstgewerbe, minor art, reiner Kunstfertigkeit. Nicht nach »Kunst«. Dass, im Gegenteil, das Ornamentale als ein Kosmisches und damit Ordnung Stiftendes zu verstehen sein kann, als etwas, was Wesens- und Verbindungsstrukturen offenlegt und damit zum Kerngeschäft von Kunst gehört, zeigt erneut der Blick auf außer- und voreuropäische Kunst sowie die Kunst der Moderne in ihrer Abwendung vom Mimetisch-Figürlichen hin zu abstrakten Strukturen.
Die Bildsprache von OZ setzt sich aus einfachsten Grundelementen zusammen und setzt diese lückenlos und durchgehend ein: organisch sich bewegende Linien, Striche und Punkte und Kreise variabler Stärke und Größe. In den vergangenen Jahren verfeinern sie sich. OZ hat einen Lackstift erworben, mit dessen Hilfe er seit der Ausstellung 2013 subtilere Strukturen in den Sprühlack einzeichnet. Es bleiben einfache Materialien und Grundfarben mit einer Dominanz von Gelb, Rot, Grün, Blau und Schwarz, zuweilen Rosa, Gelb und Orange. Sie vermischen sich nicht, sondern halten sich an ihre Territorien. In dieser farblich-formalen Verfasstheit gründet ein ornamentaler teppichartiger Zug. Fast alle großen Bildformationen von OZ wären als Teppiche oder Tapisserien vorstellbar. Als Märchenteppiche, die viele Gesichter und doch keines haben, Tapisserien, die unendliche Geschichten erzählen. So viel Phantasie habe er nicht, um eine ganze Ausstellung zu bestücken, sagte OZ zu seinem Galeristen. Auf dessen Erwiderung, er hoffe, OZ habe im Gegenteil eine grenzenlose Phantasie, malt OZ das Bild »Bunte Phantasie«: Gelborange und rosafarbene amöbenartige Gebilde schieben sich von oben links und rechts über eine rote und eine grüne Fläche, alles in sich wiederum von weißen, blauen und schwarzen Punkten und Strichen bevölkert. Es ist eines der abstraktesten Bilder von OZ. Pures Ornament oder eine Landschaft aus der Luftperspektive? Ein »Blick ins All«? Oder ein biochemisch-mikroskopischer Blick ins Kosmische?
Blick ins All
Irgendwo zwischen Mikro- und Makrokosmos
OZ’ Bildsprache oszilliert fast durchgehend zwischen dem Winzigen und dem Riesigen, dem Mikrokosmischen und dem Makrokosmischen. Sie knüpft damit einerseits an Forschungsaufbrüche der zeitgenössischen Naturwissenschaften an, etwa der Neurologie und Astronomie, andererseits an Perspektiven symbolisch-kosmischer Darstellungen der Prärenaissance sowie außereuropäischer Traditionen. Am Ende des durchaus auch hellen Mittelalters hat eine Hildegard von Bingen Visionen aufschreiben und malen lassen, die das Kleine im Großen und das Große im Kleinen als holographisches Gebilde ahnen lassen. Alles scheint mit allem verbunden. Ist unserem Heute das »Wir« nicht unausweichlicher denn je? Vielleicht liegt darin die Chance. Auf Heilung, Ganzwerden, Freiheit und Frieden.
In OZ’ Bilder-, Farb- und Formensprache, so einfach und reduziert sie erscheinen mag, finden sich Resonanzen »primitiver«, moderner, naturwissenschaftlicher Zeichensprachen sowie Reminiszenzen an archetypische Bildersprachen. Das grenzenlose galaktische Draußen wird gleichermaßen und gleichzeitig erahnbar wie das unermessliche Innen des Körpers. Sternensysteme und die Geografie des Körpers mit seinen Gefäßen, Blut- und Lymphbahnen, Zellen- und Molekularstrukturen. Der »Blick ins All« und aus dem All. Und dazwischen die Stadt und ihr Plan, auf Grundstrukturen und Bewegungsmuster konzentriert, oder qua Google Maps heran- und herausgezoomt. Ausschnitte, die, in sich formal und farblich ausbalanciert, für sich stehen und zugleich das Ganze zeigen. Darin immer wieder Augen und Münder, Sehen und Sprechen sind angedeutet oder erhofft, schwanken zwischen Lachen und Weinen, Angst und Leidenschaft, Wohlgefallen und Bedrohlichkeit. Der Betrachter hat das Gefühl: ES sieht dich an. DAS. DAS schafft Hoffnung als »Kreative, farbige, ursprüngliche Natur«, die aber zugleich verstört als etwas, das sich der Wahrnehmbarkeit entzieht und wortwörtlich der Greif- und Begreifbarkeit um jeden Preis vorenthalten werden muss. Fremd bleiben muss.
Von »OZ« zu OZ und zurück
Zu dieser komplex-einfachen Bildsprache scheint der Sprayer OZ in dieser Deutlichkeit und Großartigkeit paradoxerweise erst im geschützten Raum der OZM Gallery gefunden zu haben. Den hat ihm der Galerist Alex Heimkind in seinem Selbstverständnis als »Geburtshelfer« seit 2010 zur Verfügung gestellt. Ist der Schöpfer der Galeriebilder also der eigentliche »OZ«, der »Künstler« OZ? Und ist OZ, der Graffitisprayer, dann der »Schmierfink« oder, schlimmer noch, einfach nur der manische Sprayer, der es nicht lassen kann? Wie verhält sich OZ selbst dazu?
Nacht für Nacht ist OZ weiterhin unterwegs, wohl wissend, dass auch die Hochbahnwache und die Polizei ihm weiterhin auf den Fersen bleiben und der nächste Prozess auf ihn wartet. Denn die Gesetze haben sich nicht geändert, auch wenn die jüngsten Urteile milder ausgefallen sind. Weshalb diese Beharrlichkeit von OZ, wenn er es doch in der Galerie so viel gemütlicher – freier – haben könnte? Dorthin, so betont er genauso beharrlich, hole ihn nur die Notwendigkeit, sich an den Kosten für seine Verteidigung vor Gericht beteiligen zu müssen. Denn die Anwälte müssen bezahlt werden, die unermüdliche und ausdauernde Hingabe seiner Verteidiger stößt an Grenzen, für die auch OZ mitverantwortlich zeichnet. Das sieht er ein. Nur das. Denn der Galerie selbst und den Menschen, die sich dort bewegen, begegnet OZ mit Misstrauen, er macht es ihnen schwer. Nun gut: fast. Denn bei jeder Vernissage strahlt er stolz und vielleicht doch ein wenig glücklich. Das nächste Mal würde er es noch besser machen, sagt er dann.
»Ich lasse mich nicht draußen einsperren«
Es gibt sie beide, den »OZ« der Straße und den »OZ« der Galeriebilder, den von draußen und den von drinnen. Klar ist, dass OZ ein tief-rebellisches Freiheitsbedürfnis hat. Und das lässt ihn, den traditionellen Streetart-Prinzipien folgend, im Draußen das Weite suchen. Könnte gerade die Fixierung auf das scheinbar freie, mit Gefängnis bedrohte Draußen eine Begrenzung seiner Freiheit sein? Könnte OZ womöglich beides sein, »OZ« und »OZ«, ohne sich zu verlieren? Oder stecken er und seine Betrachter genau hier mitten im Dilemma?
»Ich lasse mich nicht draußen einsperren«, protestiert die Pariser Grande Dame der französischen Streetart Miss.Tic gegen Streetart-Dogmen, »meine Kunst passt nicht in die Schublade Streetart. Das Draußen braucht das Drinnen, das Außen das Innen«.7 Trifft Miss.Tic da einen wunden Punkt der »Schublade« Streetart? Oder hat sie, pragmatisch-kluge Argumentation hin oder her, ganz einfach den Ehrenkodex ihrer Disziplin verraten? Denn der lautet ja »frei von Geld ist frei für die Kunst« und »nicht um Erlaubnis fragen«. Miss.Tic fragt um Erlaubnis seit ihrer Verurteilung 1999. Doch nicht nur in Sachen Legalität geht sie von Beginn ihrer Graffitikarriere in die genaue Gegenrichtung von OZ. »Ich wollte von meiner Arbeit leben können und mir einen Platz in der Kunstgeschichte erobern«, sagt sie. Und das hat sie längst geschafft.
Gerade weil Anerkennung von außerhalb der Sprayerszene zu erhaschen OZ ebenso fern liegt wie der erotische, an Wortwitz reiche Stil einer Miss.Tic, gerade weil kaum radikalere Gegensätze innerhalb der Streetart vorstellbar sind, zeigt sich zwischen den beiden Künstlern deutlich die Frage nach der Freiheit – »Künstler« oder Künstler zu sein oder weder noch.
Sind nicht beide, die In-Künstlerin Miss.Tic und der Outlaw OZ, auf ihre jeweils entschieden konträre Weise gefangen in ihren Szenen und Konzepten? Sperrt sich nicht aus, wer sich einsperrt – und ein, wer sich aussperrt? Aus einem Konzept, aus einem sozio-ökonomischen Feld, in ein Muster, in eine Szene? Wofür oder gegen man sich auch entscheidet, man setzt sich notwendig von dem Anderen ab, welches einem zur Ein- bzw. Abgrenzung dient. Definieren heißt Grenzen-Ziehen. Solange es Grenzen gibt, drinnen und/oder draußen, bleibe ich unfrei, unfrei durch das, was außerhalb oder jenseits des Dualismus Innen-Außen liegt. Freiheit kann nicht sein, wenn irgendwo Unfreiheit bestehen bleibt. Vielleicht könnte Freiheit sich dort öffnen, wo sie überflüssig wird, weil sie ganz und gegensatzlos ist. Weil sie ist.
Doch während sich Miss.Tic, Naegeli, Haring oder Basquiat als Künstlerinnen und Künstler rasch positioniert und etabliert haben, bleibt im Fall von »OZ« noch dieses Zögern, wo er zu verorten, wo er zuzuordnen sei.
Was ist »OZ« – »Kunst« oder Kunst oder welche?
Hat in den 1970er Jahren The Faith of Graffiti den Horizont dessen, was Kunst in der postmodernen Praxis sein könnte, weit geöffnet und damit einen neuen Maßstab für den modernen Kunstbegriff gesetzt, bedeutet es dann nicht eine Rückkehr in den alten Kunstbegriff, wenn seit dem Ausbruch des »Aufstands der Zeichen« auf den Undergroundzügen dieselben Schriftzüge Einzug in Galerien und Kunsthandel gefunden haben? Wenn die im »Freien« geschaffenen Gebilde in Räume und, schlimmer noch, museale Zusammenhänge verfrachtet oder sogar eigens für diese geschaffen, auf traditionelle Träger wie Leinwände gebannt, also ihrer Freiheit, ihrer Essenz beraubt werden?
Vermag der wortwörtlich durch die Graffitipraxis entgrenzte, seiner greifenden Funktion beraubte Kunstbegriff hier wieder neu zu greifen, sozusagen innerhalb seiner angestammten Hoheitsrechte? Oder wird er nicht letztlich durch die »freie« Bewegung der Graffitikünstler und der vom Graffiti inspirierten Künstler ad absurdum geführt? Denn auch das ist Teil ihrer Freiheit: dass sie mit den Graffitielementen und -techniken »frei« umgehen, diese »weiter«entwickeln oder, besser gesagt, umgestalten und im Sinne situationistischer Praktiken selbst pervertieren und zweckentfremden. Eine mit hartem Kampfgeist arrivierte Künstlerin wie Miss.Tic antwortet, ihrer Eroberung der Kunstgeschichte zum Trotz, auf die Gefahr, welche das Kunstbegriffliche bzw. in Kategorien fassen Wollende in sich birgt, mit der ihr eigenen Präzision und Selbstüberschätzung: »Ich durchkreuze jeden Anschein, ohne mich zu unterwerfen. Ich verfremde, ich ironisiere, ich verfälsche.«
Aus demselben Grund, »frei« schaffend zu bleiben, der eine Miss.Tic gerade auch gegen die vermeintlich »rechtgläubige« Sprayerszene rebellieren lässt, sträubt sich OZ dagegen, aus seiner von polizeilich-»rechtsstaatlicher« Gewalt bedrohten »freien« Praxis in gewalt-»freien« Galerieräumen seiner »freien« künstlerischen Entfaltung nachzugehen. Freiheiten, die sich im Gegeneinander definieren, berauben sich aber ihrer Existenz. Und in diesem Abgrenzen-, diesem Definieren-Wollen bedroht der bürgerliche Kunstbegriff OZ’ Selbstverständnis als eines rebellischen Stadtschreibers, auch wenn die Aussicht durchaus verlockend ist, plötzlich in den Kreis gesellschaftlich akzeptierter »Künstler« aufgenommen zu werden, dort Anerkennung zu finden.
Unmittelbar mit dieser kategorialen Rückordnung in die Gesellschaft ist das Element verbunden, welches ihre Maschinerie am Laufen hält: Geld. Die Assoziation »Schmiergeld« zu »Schmierfink« schleicht sich augenzwinkernd ein. Tafelbilder, in Galerien ausgestellt, lassen sich in Geld umwandeln. Kluges Detournement oder Verrat? Dass die Vereinnahmung des Rebellischen in den kapitalistischen Kontext unaufhaltsam scheint, wird im Fall des Rebellen OZ besonders bedrohlich und entsprechend bedenkenswert. Doch so wenig wie der juristische Prozess um das freie Schaffen von OZ ist der Entwicklungsprozess des künstlerischen Potentials von OZ an seinem Ende angekommen. Und mit diesem Potential ist nicht nur die formal-ästhetische Entwicklung gemeint, sondern die Sprengkraft seiner »Kunst« über den Horizont von Produktion und Rezeption hinaus.
»Die Mauern müssen bersten vor Glück«
Sagt der Expressionist Franz Jung. Graffitis seien »Sprengsätze«, sagt Harald Naegeli. »Eine Wand ist eine sehr starke Waffe. Es ist eine der fiesesten Dinge, mit denen man jemanden treffen kann«, sagt Banksy.8 Kiddy Citny malt 1989 herzförmige Gesichter auf die Berliner Mauer, kurz danach öffnet sie sich. Kann diese Sprengkraft, wie sie im Aufbruch der Graffitiszene im New York der 1970er Jahre zu spüren war und in Hamburg in unbeirrt konsequenter Weise von OZ seit den 1980er Jahren weitergeführt wurde, sich durchsetzen über alle Besitz und Begriff ergreifenden Prozesse hinaus? Geht die Energie dieser anderen Form von Angriff aus dem Underground auch von einem Tafelbild aus? Dieselbe intuitive Kraft, die OZ 30 Jahre an der Arbeit gehalten hat, lässt ihn die Gefahr zumindest instinktiv gewahr werden, dass in diesem Prozess der Einordnung in gesellschaftlich anerkannte Kategorien seiner Kunst das Rebellisch-Eigentliche genommen werden könnte. Aber: Wird es das? Was ist das, was der Künstler hinterlässt? Was scheint da sichtbar zu sein? Was sehen wir, wenn wir ein Graffiti auf einer städtischen Mauer sehen, und was, wenn wir dann ein Tafelbild desselben Künstlers sehen? Sehen wir das eine mit der Erfahrung des anderen anders?
Ich sehe was, was du nicht siehst
Für diese Fragestellung kann es an- und aufregend sein, das kunsthistorische Instrumentarium der phänomenologischen Beschreibung und Analyse des gegenständlich Wahrnehmbaren noch einmal auf seine Tragfähigkeit hin zu befragen. Das scheint im Fall von OZ angesichts der Sichtbarkeit seiner Werke im Stadtbild und seit kurzem in der Galerie ein Leichtes zu sein. OZ’ Werke scheinen betrachtbar und beschreibbar zu sein. Dagegen hat seit Dada, Surrealismus, Subrealismus und Fluxus die fortschreitende Reduktion des Kunstwerks auf dessen Konzeption der klassischen gegenständlichen Kunstbetrachtung den Boden weggezogen. Der traditionelle Werkbegriff auf der Basis des »Begreifens« eines materiell Vorliegenden ist dem konzeptionellen Kunst-»Begriff« als gedanklichem Entwurf gewichen, in dem »Kunst« gerade noch Spuren hinterlässt, letztlich jedoch unsichtbar wird oder bleibt, als Traum, Projekt oder Vision.
So kommt es zu dem Paradox, dass – wenn es um die Frage der künstlerischen Wertigkeit und Anerkennung geht – die begrifflich ausdifferenzierte Konzeption Vorrang hat vor der phänomenologischen Präsenz eines sichtbaren Werkes. Dies ist sicher mitverantwortlich dafür, dass sich die Kunstszene schwer damit tut, Graffitis allgemein und das Werk von OZ im Besonderen als Kunst anzuerkennen. OZ erklärt weder sich noch seine Kunst, er malt mit Sprühdosen und Lackstiften, eigentlich traditionell, mit modernen Materialien. Lässt sich also im Fall von »OZ« klassisch-phänomenologisch vorgehen? Anders gefragt: Ist »OZ« altmodisch?
Ganz so einfach ist es offensichtlich nicht. Denn wenn die Kunstwissenschaft im Jahr 2013 zur phänomenologischen Perspektive greift, sollte sie als Wissenschaft die Erkenntnisse der zeitgenössischen Neurologie und Psychologie zu den Wahrnehmungsmechanismen und -möglichkeiten hinzunehmen. Wobei dann jedoch rasch klar wird, dass das, was da betrachtet zu werden scheint, nicht als ein materiell bereits Vorliegendes, als ein an sich vorhandenes »Werk« vom Auge erfasst wird, sondern erst im Auge des Betrachters entsteht. Und was da in den Betrachtern entsteht, ist von vielfältigen, sehr komplexen Faktoren abhängig. Dass sich die in der Jetztzeit lebenden europäischen Betrachter auf dieselben Grundstrukturen einigen können, hat wesentlich mit vererbten und erlernten Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Ausdrucksstrukturen zu tun. Die zeitgenössische Kunstwissenschaft kann die Entdeckungen der zeitgenössischen Physik und Neurologie, Kulturwissenschaft, der Ethologie und Ethnologie nicht ignorieren. Und die besagen, dass es kein objektivierbares Kunst-»Werk« und letztlich keine Kunst als absolut setzbare Kategorie gibt. Neurologen gehen so weit zu behaupten, es sei ein materialistischer Irrtum, etwas würde ohne unsere Wahrnehmung an sich vorliegen. Es entstehe erst und nur im Augenblick der Wahrnehmung als Schöpfung des Wahrnehmenden.
Nehmen wir diese Verunsicherung unserer Wahrnehmung an, was vermag dann »Kunst« zu sein? Wenn wir zudem unseren Horizont über das eurozentrisch-historistische Kunstverständnis hinaus weiten, welcher Kunstbegriff ist dann für welche historische Zeit für welchen geografischen Kulturraum sinnvoll? Und überhaupt: Sinn? Ist jeder »Kunst«-Begriff nicht ein fragiler Arbeitsbegriff, eine Krücke wie letztlich jede Definition? Wird angesichts dessen nicht Joseph Beuys’ Begriff von Kunst als »Sozialer Plastik« dem Phänomen, welches wir als Kunst wahrnehmen, am ehesten gerecht? Allerdings ist dann »jeder Mensch ein Künstler«. Doch wenn als »Soziale Plastik« in letzter Konsequenz alles Kunst ist, dann braucht man den Begriff »Kunst« nicht mehr.
Womöglich auch deshalb hat sich dieser Beuys’sche »Kunst«-Begriff nicht durchgesetzt. Gleichwohl kann die Kunstwissenschaft nicht mehr hinter ihn zurückgehen. Mag er auch, ernst genommen, stören, er ist da. Ist OZ, der einfach sichtbar mit Sprühfarben malt, dann ein retrograder »Künstler« und damit uninteressant für die Kunstwissenschaft? Oder wie verhält es sich, wenn auch ein traditionelles Kunstwerk als soziokultureller Gesamtkontext und im Prozess Bleibendes gesehen wird?
Die Entgrenzung oder »Entgrifflichung« des Kunstbegriffs als »Soziale Plastik« vollzieht sich für beide Seiten. Für die des Betrachters, der im Akt des Sehens und nur als dieser Akt des Sehens die Plastik, das Gebilde schafft, sowie die des »Künstlers«, der aus seiner Inspiration heraus seine »Plastik« schafft – gleichgültig, wie begreifend oder nicht er sich im Vorfeld oder Umfeld bewegt. In dieser Perspektive bekommt die »Plastik«, die »Kunst«, erst wieder ihre Funktion. Eine uralte Funktion: Entgrenzung in ein Anderes, ein Ungreifbares, ein Unnennbares hinein. Öffnung. Befreiung.
Geht es OZ nicht genau darum, die von Werbe- und Verkehrsschildern beherrschte Stadt zur »Kreativen, farbigen, ursprünglichen Natur« hin zu befreien, ihre ergrauten Mauern zum Blühen zu bringen und den Überwachungsorganen ein Smiley entgegenzusetzen? Nicht nur bringt OZ seine Zeichen fast ausschließlich an unansehnlichen verlassenen Stellen an, sondern, bevor er im Stadtraum ein Piece, ein größeres Wandbild anbringt, säubert er liebevoll Mauer und Ort. »Die Mauern mögen bersten vor Glück.«
Blumenstrauß für die Ewigkeit
»Blumenstrauß für die Ewigkeit« – ein Epilog
Wenn in dem sich historisch verstehenden europäischen Kunstkabinett seit der Renaissance das technisch und ästhetisch »Neue« in der Abbildung einer vorausgesetzten Wirklichkeit das entscheidende Kriterium der Kunst war, zeichnet sich in der postrevolutionären romantischen Kunst um 1800 das Bestreben ab, dieser gesellschaftlich-herrschaftlichen Verpflichtung künstlerische Autonomie entgegenzusetzen. Kunst will von nun an »hinter« die Oberflächen schauen und im Einklang mit neuen Lebensformen neue Wahrnehmungsperspektiven entwickeln. An der mit der Autonomie der Kunst entstandenen Gefahr, als »L’art-pour-l’art« zum harmlosen Projektions- und Kompensationsort für die unerfüllten Sehnsüchte des Bürgertums verkehrt zu werden, arbeitet sich emanzipatorische Kunst seither ab. Seit den Vernichtungen während der Weltkriege, die in erschütternder Weise die Instrumentalisierbarkeit von Kunst in der Ästhetisierung der Politik gezeigt hatten, sind Verfremdung, Verstörung und Zerstörung Grundstrategien der modernen Kunst. Von den Dadaisten über die Surrealisten und Situationisten bis hin zur Gegenwartskunst ist den Avantgarden das Eine gemeinsam: dass es um das Fremde geht, welches fremd bleiben muss, wenn Kunst irgendeinen Sinn haben möchte.
Wenn »Kunst« etwas damit zu tun hat, von Fremdheit zu zeugen und Fremdheit zu schaffen, oder anders gesagt, neue unbesetzte Räume und Horizonte zu öffnen, »eine Art Loch, eine Bresche im Gegebenen selbst« (Lyotard), Mauern einzureißen, dann hört sie dort auf, »Kunst« zu sein, wo sie als solche anerkannt wird, wo ihre Fremdheit aufhört. In dieser Hinsicht ist OZ schon lange »Künstler«. In Anbetracht seines Lebens-Gesamtkunstwerks, dieser monumentalen 30-jährigen »Sozialen Plastik«, die er, hartnäckig und geradezu stur, gegen die zuschlagende öffentliche, mediale und vereinnahmende Hand erkämpft hat, ist er ein eminenter Künstler. Und er ist es ebenso unter künstlerischen Gesichtspunkten im Angesicht seiner jüngsten gestalterischen Entwicklung. Die zeigt, dass OZ noch lange nicht fertig ist. Gerade weil und indem sich die Frage »Kunst oder Nicht-Kunst« für ihn und um ihn herum stellt, zeigt sich, dass er dem einfachen Anschein zum Trotz ein sehr »traditioneller« und ein sehr zeitgenössischer Künstler zugleich ist. Er hebt diese historische Unterscheidung auf. Wenn OZ selbst zögert, ob er sich als »Künstler« begreifen lassen möchte, reagiert er instinktiv konsequent. Vielleicht ist es um des Potentials seiner Kunst willen doch besser, »Schmierfink« als »Künstler« zu sein. Und letztlich wäre es nicht von Bedeutung, ob das, was OZ macht, »Kunst« genannt wird, würde die Gesellschaft die Freiheit künstlerischen Ausdrucks bzw., im Fall von »freier« Kunst im öffentlichen Raum, die Straflosigkeit nicht von diesem Etikett abhängig machen. Denn nur als solche anerkannte »Künstler« werden von der Gesellschaft für ihr Schaffen »frei« gestellt, »Schmierfinke« landen im Gefängnis. Also ist OZ »Künstler«. Oder?
Das wäre ein möglicher Schluss. Doch das Leben spielt anders. Uneindeutig und überraschend. Das Einzige, was gewiss scheint, ist, dass OZ weitermalen wird, so lange er kann. Und dass er nie mehr bedroht werden sollte. Das hat nichts in einer kunstwissenschaftlichen Betrachtung zu suchen? Mit einem Lächeln denke ich an die gelbe Rose, die OZ mir bei unserer ersten Begegnung schenkte. Er hatte sie auf der Straße gefunden.
Ein breiter Strom von Rosa mit violetten Ufern mäandert vierarmig über eine hochformatige Leinwand. Rechts und links ergeben sich blaue Felder, unten ein grünes. Nach oben öffnet sich eine gelb-orange Vasenform. Feine schwarze Strichrhythmen tanzen über die Bildfläche. Um schwarze und viele rote kreisförmige Gebilde mit weißem Kern herum. Blumen?
Während OZ für die jüngste Ausstellung 2013 malt, kommen ihm Zweifel, ob er das wirklich will. Wie üblich in solchen Situationen, konsultiert er seinen Anwalt Andreas Beuth. Der redet ihm zu, OZ hört ihm zu, wissend, dass er ihm seit Jahren seine Freiheit zu verdanken hat. OZ kehrt in die Galerie zurück und malt »Blumenstrauß für die Ewigkeit«.
Jorinde Reznikoff
Fußnoten
1 »I think that in a way some [critics] are insulted because I didn’t need them. Even [with] the subway drawings I didn’t go through any of the ‘proper channels’ and succeeded in going directly to the public and finding my own audience ... I bypassed them and found my public without them. They didn’t have the chance to take credit for what I did. They think that they have the role of finding the artist ... and then teaching the public ... I sort of stepped on some toes«. Keith Haring, vgl. www.haring.com
2 »A more holistic and basic idea of wanting to incorporate [art] into every part of life, less as an egoistical exercise and more natural somehow. (…) Taking it off the pedestal. I’m giving it back to the people, I guess.«
3 »Graffiti writing is a way of gaining status in a society where own property is to have an identity«. Norman Mailer: The Faith of Graffiti, New York 2009, HarperCollins Publishers. S. 30.
4 »Authority imprinted upon emptiness is money.«
5 Das Gemeinschaftswerk kann – wie alle anderen Gemälde der Ausstellung »untitled« – im Online-Katalog der OZM Gallery angeschaut werden.
6 Auch diese Werke finden sich im Onlinekatalog der OZM Gallery.
7 Jorinde Reznikoff und KP Flügel (Hg.): Bomb it, Miss.Tic! Mit der Graffiti-Künstlerin in Paris, Hamburg 2010, S. 11.
8 »A wall is a very big weapon. It’s one of the nastiest things you can hit someone with«. Zit. nach Katrin Schuster: Mauern als Waffen. In: Freitag, 20.1.2006.
Druckfahne »Ist »OZ« Kunst oder Was ist Kunst, wenn OZ Künstler ist?« (pdf)
Hinweis: Dies ist die Online-Version des Buchs »Free OZ! Streetart zwischen Revolte, Repression und Kommerz», das 2014 im Verlag Assoziaton A erschienen ist. Es ist inzwischen vergriffen, als Würdigung seines Werks und als Inspiration für die zukünftige Auseinandersetzung mit Walters Schaffen ist es hier dokumentiert.