All City King – OZ und der städtische Raum

»Admiror pariens te non cedidiesse rvinis qvi tot
Scriptorvm tadedia svstineas.«
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Als Anfang der 1980er Jahre die Schweizer Behörden Harald Naegeli zur Fahndung ausschrieben, um gegen ihn eine Haftstrafe wegen Sprühereien im Züricher Stadtbild zu vollstrecken, war das nicht nur der Tagesschau, der Hauptnachrichtensendung der ARD, eine Meldung wert. Über Wochen berichteten westdeutsche Medien über den Vorgang und drückten mehrheitlich ihr Unverständnis über die drastische Repression im Nachbarland aus: Warum musste ein Mensch wegen bloßer Sprühereien – von Graffitis oder gar Streetart war seinerzeit noch keine Rede – mit einer Gefängnisstrafe überzogen werden?

    Gemessen daran haben sich in der heutigen Bundesrepublik die Verhältnisse einschneidend verändert. Längst ist »Sprühen« ein eigener Tatbestand des Strafgesetzbuchs, und gerade im Fall von OZ, der wegen seiner Gestaltungen des öffentlichen Raums bereits acht Jahre im Gefängnis verbringen musste, zeigt sich der gesellschaftliche Deutungs- und Meinungswechsel in Bezug auf Graffitis bzw. Streetart.

    Nachstehend soll den Ursachen und Begleitumständen dieses Paradigmenwechsels nachgegangen werden. Demnach ist die Kriminalisierung von Graffitis weniger eine Reaktion auf die Störung der Rechtsordnung im Allgemeinen oder einer nachhaltigen Schädigung von Einzelnen im Besonderen, sondern vielmehr Ausdruck eines Straf- und Verfolgungsbegehrens, das im Kontext eines gesamtgesellschaftlichen neoliberalen Rollbacks zu sehen ist. Helga Cremer-Schäfer und Heinz Steinert schreiben in einer Studie gar von einer »Straflust«.2 Dieses Verfolgen und Strafen findet in den Praktiken der Streetart bzw. Graffitis einen geeigneten Ansatzpunkt, da diese Praxis zumeist mit urbanen jugendlichen (Sub-)Kulturen verbunden ist und tradierte Feindbildmuster einer vermeintlich delinquenten und sich gesellschaftlicher Kontrolle entziehenden Jugend bedient.

    Es soll aber auch der Frage nachgegangen werden, inwieweit Graffitis und Streetart nicht tatsächlich ein Aufbegehren im Wortsinn »markieren« und demzufolge von der Mehrheitsgesellschaft durchaus als ein Angriff auf die (Rechts-)Ordnung wahrgenommen und in der Folge kriminalisiert werden.

    OZ als praktizierender Graffiti- und Streetart-Künstler erscheint mit seinen mittlerweile 63 Jahren allerdings alles andere als der typische Repräsentant einer delinquenten Jugendbewegung. Dennoch ist er seit den 1990er Jahren in der öffentlichen Debatte in Hamburg zur exponierten Symbolfigur geworden, soweit es um die Kriminalisierung von Graffitis geht. In diesem Kontext boten die damaligen Prozesse um OZ eine Projektionsfläche für einen gesellschaftlichen Diskurs, in dem sich Straflust bzw. Bestrafungsphantasien an seiner Person ausagierten. In den Lokalteilen der Hamburger Morgenpost und BILD-Zeitung wurden die Linien der »Diskussion« mit Stichworten wie »schlimmster Schmierfink« oder »geschlossene Unterbringung« vorgegeben. Der seine damalige Popularität in den Medien ausnutzende Amtsrichter und spätere kurzzeitige Innensenator Hamburgs, Ronald Schill, schwadronierte in einer lokalen Fernsehsendung über die strafunwillige Justiz und forderte Höchststrafen für OZ mit anschließender lebenslanger geschlossener Unterbringung. Nachdem 2005 die Verteidigung von OZ durch den Rechtsanwalt Andreas Beuth übernommen worden war, änderte sich die mediale Rezeption, nicht zuletzt weil die Verteidigung in OZ‘ Tun ein grundrechtlich geschütztes Wirken sah und der Mediendiskurs nun die Frage »Kunst: ja oder nein?« thematisierte.

    OZ selbst hat diese Öffentlichkeit von sich aus nie gesucht. Er wollte hinter seinen von ihm öffentlich sichtbar gemachten Zeichnungen im Verborgenen bleiben. Paradigmatisch sind Bilder von OZ in der Lokalpresse aus den Prozessen in den 90er Jahren, die den sich hinter Schildern verbergenden Angeklagten zeigen.

    Graffitis werden im Alltagsverständnis als Phänomen der Moderne wahrgenommen. Doch wenn man Graffitis als zeichengebende Repräsentations- und Kommunikationsstrategie im Raum auffasst, dann handelt es sich um eine der ersten Kulturtechniken der Menschheit. Schon die ältesten bekannten Höhlenzeichnungen dokumentieren zu einem Zeitpunkt, als die Menschen noch nicht über ein sprachliches Zeichensystem verfügten, das Bedürfnis, sich in den Raum hinein zu artikulieren. Damit ist eine anthropologische Grundkonstante beschrieben. Prähistorische Zeugnisse der verschiedensten Höhlenmalereien, Fels- und Steinmarkierungen mit Zeichen, Symbolen und bildlichen Darstellungen, sind weltweit nachweisbar. Nach der Entwicklung von Schriften vor ca. 5.000 Jahren brauchte es eine Weile, bis diese anfangs nur einer Elite vorbehaltene Kulturtechnik auch den Raum eroberte. Doch schon die dokumentierten Textinschriften aus Pompeji aus dem Jahre 79 n.u.Z. zeigen, dass Graffitis spätestens seit dieser Zeit zum Bestandteil des öffentlichen Raumes geworden sind.

Für die Klärung der Frage des politischen Gehalts von Graffitis ist also eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff des Raums durchaus von Relevanz. Im Folgenden soll daher auf Grundlage der Untersuchung von Markus Schroer über die Soziologie des Raums ein Anknüpfungspunkt geschaffen werden für die Analyse aktueller neoliberaler Regulationsstrategien und der mit ihnen verknüpften Repressionstechniken, die ihrerseits den Hintergrund für die Kriminalisierung von GraffitikünstlerInnen darstellen.3 Damit soll die titelgebende Doppelperspektive auf Graffitis zwischen Repression und Revolte analysiert werden.4

    Schroer verweist darauf, dass bereits seit den Überlegungen der antiken Philosophen und den daran anschließenden Konzepten der Renaissance die Idee des Raums mit Ordnungsmodellen für die Gesellschaft einhergehen. Seine Soziologie des Raums bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte, mit denen sich Graffitis und Streetart jenseits einer affirmativen Stilisierung als soziale Praxis im städtischen Raum verorten lassen.

    Bereits der französische Begründer der Soziologie, Emile Durkheim, hat darauf aufmerksam gemacht, dass der physische Raum immer zugleich als sozialer Raum zu fassen ist. Mit der zunehmenden Entwicklung von komplexen Gesellschaften löse sich der territorial bestimmte Raum im Zuge der Entgrenzung und Globalisierung der Lebensverhältnisse scheinbar auf. In einer Rückbesinnung auf das Lokale und Überschaubare bildeten sich dagegen Raumkonzepte aus, die sich nach außen abgrenzen und gegen Fremdes zur Wehr setzen. Diesen Zusammenhang beschreibt José Guilherme Cantor Magnani in seiner aktuellen Untersuchung Kreisläufe, Routen und Reviere anhand der urbanen Praktiken von Jugendlichen in São Paulo. Durch gesprühte Pichaçôes, die mit einem Verweis auf den Stadtteil, in dem der Sprayer lebt, versehen sind, sowie einem Grife, der die Zugehörigkeit zu einer Sprayergruppe anzeigt, werden u.a. Reviere, sogenannte Quebradas, markiert. Die Sprühereien selbst sind Namen oder Spitznamen in stilisierten Buchstaben, die an schwer erreichbaren Orten angebracht werden und für Außenstehende als eine Art Geheimcode kaum entzifferbar sind. An Treffpunkten der Sprayerszene werden zwischen verschiedenen Gruppen Bilder der Pichaçôes ausgetauscht. Die Zugehörigkeit zu einer Crew, das Sprühen der Pichaçôes, die Treffen und Verabredungen zu gemeinsamen Streifzügen mit anderen Gruppen werden zum Bestandteil einer identitätsstiftenden Aneignung des städtischen Raums.5

    Der Stadtsoziologe Georg Simmel bestimmt diesen sozialen Charakter des Raums als eine Doppelung: Zum einen strukturieren Räume das Soziale, zum anderen wird Raum sozial erzeugt. Damit haben auch Grenzziehungen einen doppelten Charakter. Sie schaffen einerseits Zusammengehörigkeit, die die Beziehungen der Menschen zueinander in einem Ausdruck räumlicher Be-Grenzung strukturiert. Schroer hält fest, dass die Strukturierung des Raums mittels Schranken oder Grenzen andererseits als Investition in die Sicherheit, Stabilität und Übersichtlichkeit sozialer Verhältnisse aufzufassen sei. Die Bedeutung von Simmels Raumsoziologie bestehe darin, sowohl die strukturelle Seite des Raums als auch die Hervorbringung des Raums durch menschliche Aktivitäten herausgestellt zu haben.

    Graffitis können also als eine mögliche Form der Raumproduktion verstanden werden, indem – wie das Beispiel der Pichaçôes zeigt – Reviere und Territorien markiert und zugleich mit einer subversiven Gegenstrategie verknüpft werden. Sie können darüber hinaus vorher Unbeachtetes durch eine Be-Zeichnung bzw. Be-Schriftung in den visuellen Fokus bringen. Tatsächlich stellen einige der OZ zugeschriebenen Techniken eine Sichtbarmachung von Verteilerkästen, Begrenzungselementen und Mauern dar, indem sie mit stilisierten Phantasiegesichtern, farbigen Mustern oder seriellen Tags versehen werden. Das Gegenteil der grauen Wand ist die nichtgraue Wand. Den betongrauen Stadtmauern die Farben der Natur zu geben, ist eine erklärte Absicht von OZ. Die durch die lokalen Medien forcierte öffentliche Empörung, die seine Arbeiten auslösten, wird weniger damit begründet, dass OZ frisch gestrichene Wände privater Hauseigentümer umgestaltet hätte. Als OZ einen verrotteten Weltkriegsbunker während mehrerer Nächte mit farbigen Graffitis verschönerte, fand dies sogar die ausdrückliche Zustimmung von Anwohnenden. Die in diesem Fall vor einem Gericht verhandelte Anklage wegen Sachbeschädigung (!) fußte auf der ausdrücklichen Feststellung der Staatsanwaltschaft, an der Strafverfolgung bestehe ein öffentliches Interesse. Dieses »öffentliche Interesse« fokussiert sich vor allem auf die Regelverletzung, die im unbefugten Umgestalten des öffentlichen Raums besteht. Die eigenmächtige Manipulation äußerer Raumbegrenzungen lässt die Übertretung von Be-Grenzungen generell befürchten.

    In diesem Zusammenhang ist die Erweiterung des Raumbegriffs durch Pierre Bourdieu interessant. Soziale Ungleichheiten beruhen ihm zufolge auf einer unterschiedlichen Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital. Teilräume wie das politische, wissenschaftliche oder wirtschaftliche Feld seien Kampffelder, auf denen um Wahrung oder Veränderungen der Kräfteverhältnisse gerungen wird. Zugleich stehen bei Bourdieu Raum und Körper in einem Beziehungszusammenhang. Soziale Strukturen schreiben sich in Körper und in den physischen Raum ein. Körper und Raum sind demnach Ausdruck sonst schwer greifbarer Effekte gesellschaftlicher Produktions- und Reproduktionsprozesse. Sie sind die zentralen Kategorien, die sichtbar machen, was sonst verborgen bliebe. Bourdieus Raumvorstellung liefert ein stadtsoziologisch bedeutsames Instrumentarium, mit dem sich urbane Raumverhältnisse analysieren und darstellen lassen. Schroer beschreibt dies wie folgt: »Bourdieu kritisiert (...) ausdrücklich eine bestimmte Art von Architektur dafür, dass sie der Illusion unterliegt, mit der Gestaltung bestimmte Gebrauchsweisen von Gebäuden und deren Einrichtung festlegen zu können. Der Ausgangspunkt bei Bourdieu ist vielmehr stets umgekehrt, dass sich soziale Verhältnisse in den physischen Raum einschreiben. Und dies ermöglicht es Bourdieu, aus den räumlichen Strukturen die sozialen regelrecht herauslesen zu können: (...) sie erzählen gleichsam von den Machtverhältnissen, die durch sie zum Ausdruck kommen: von der Ungleichheit zwischen Mann und Frau, von den herausgehobenen Positionen des Lehrers und des Professors, die durch Podest oder Katheder angezeigt werden.«6 Konsequenterweise erklären Wolf-Dieter Narr und Alexander Schubert mit Bezug auf Bourdieu: »Die gesamte Herrschaftsgeschichte könnte als Geschichte der Raumaneignung, der Raumentfremdung und der Raumbemächtigung geschrieben werden. Es ist kein Zufall, dass zwischen Herrschaftsgeschichte und Architekturgeschichte ein enger Zusammenhang besteht.«7 Bourdieu sieht einen Zusammenhang mit der Verfügungsmacht über den Raum, die mit der sozialen Stellung der Akteure verknüpft ist. Dabei ist zu beachten, dass eine bloß räumliche Annäherung nicht zugleich eine soziale Annäherung bedeutet. Im Gegenteil: Wo sozial sehr unterschiedlich positionierte Akteure aufeinandertreffen, ist Segregation bestimmend, wie das Nebeneinander von Gated Communities und Favelas, von privilegierten privaten und vernachlässigten öffentlichen Schulen oder die Aufteilung von öffentlichen Verkehrsmitteln in 1. und 2. Klasse belegen.

Die bloße räumliche Anwesenheit kann aber durch die aktive Einnahme und Markierung mittels kultureller Praktiken transformiert werden und einen Habitus ausbilden, Räume zweckbestimmt zu nutzen und sich anzueignen. Dies ist der Gegenentwurf zu einer vorauseilenden Selbstexklusion, der zufolge man zwar anwesend ist, eine räumliche Präsenz im Sinne eines kulturellen, kommunikativen und damit gesellschaftlichen Lebens jedoch nicht stattfindet. Bourdieu hat in seinen raumsoziologischen Überlegungen die Techniken des informellen Ausschlusses unerwünschter Menschen an öffentlichen Orten thematisiert. Mit Bourdieus herrschaftskritischem Raumbegriff lassen sich Einkaufszentren und Innenstadtlagen als öffentliche Orte gegen eine vorauseilende Selbstexklusion verteidigen, indem die Versuche von Citymanagement oder Zusammenschlüssen von Gewerbetreibenden, Obdachlose oder sogenannte »Randständige« zu vertreiben als diskriminierende Ausschlussstrategie benannt werden.

    Dennoch kritisiert Schroer Bourdieus Raumkonzept als zu statisch und zu sehr an Eigentumsverhältnisse gebunden, denn die Praktiken des Ausschlusses von Nichtdazugehörigen oder die Verteidigung gegen Eindringlinge in einem Nobelviertel bzw. einer Gated Community werden in Quartieren wie den Pariser Banlieues oder den Favelas in Rio de Janeiro unter einem anderen Vorzeichen gleichfalls ausgeübt. Die Vielfalt von sprachlichen, grafischen und ästhetischen Formen der Raummarkierung in den letztgenannten Quartieren würden in diesem Zusammenhang eine soziale Aneignungsform beschreiben, die den defensiven Raumverteidigungskonzepten privilegierter Wohngebiete überlegen sei, da sie eine aktive Form der Infragestellung sozialer Verhältnisse repräsentiere, erst recht, wenn politische Aktionsformen wie z.B. Hausbesetzungen hinzukämen.

    Dieses überlegene Potential von Graffitis beschreibt Richard Sennet in seinem Buch Civitas als einen Akt der »Übertretung und Indifferenz (...) mit einem einfachen Ergebnis. Die Graffitis wurden von Anfang an als kriminell eingestuft.« Der Graffitiboom in den Großstädten der USA in den 1970er Jahren habe dazu geführt, dass die »Provokation der Graffitis aus der Angst vor den Armen erwächst«. Graffitis machten Menschen weiterhin Angst, weil sie als »schriftliche Äußerungen der Unterklasse(,) offen deren Anwesenheit bezeugen: Wir sind da, und wir sind überall. Mehr noch: Ihr anderen seid nichts – wir schreiben über euch hinweg.«8

    Das Verständnis des soziologischen Raums als durch Grenzziehungen errichtete Herrschaftszone erweitert der Soziologe Anthony Giddens um eine Raum-Zeit-Kategorie. Dabei versucht Giddens auch das grundlegende soziologische Problem der Frage nach der Aufrechterhaltung der Ordnung zu beantworten. Akteure sind in diesem erweiterten Raumentwurf in die Lage versetzt, die Gründe ihres Handelns und die Folgen ihres Tuns zu überschauen. Strukturen stünden den Handelnden nicht mehr gegenüber, vielmehr flössen sie in einem aktiven Prozess der Aneignung unmittelbar in Handlungen ein, die wiederum zu neuen Strukturen führten. Diese Strukturen werden nicht mehr als reglementierend, sondern als handlungsleitend aufgefasst. Giddens beschreibt Raum-Zeit-Pfade, auf denen Individuen sich in einem Raum-Zeit-Kontinuum bewegen, sich Wege kreuzen und es zu Begegnungen kommt, die soziale Ereignisse schaffen. Es gebe Mobilitätsunterbrechungen und Orte des Stillstands, in denen es in Raum-Zeit-Segmenten zu Interaktionen und einem Raumerleben komme. Giddens erklärt, »dass die Akteure die räumliche Gebundenheit als einen Bestandteil ihrer Interaktionen mobilisieren; sie nutzen die räumlichen und physikalischen Aspekte ihres Aktionsfeldes routinemäßig dazu, um ihre Kommunikation aufrechtzuerhalten«.9 Giddens beschreibt dies als »aktive Organisierung des Raumes (›spacing‹)«. Spacing ist damit zugleich aber auch in ein Machtdispositiv eingeschrieben, denn Giddens weiß darum, dass die Raumaneignung daran gebunden ist, ob und welcher Spielraum Handelnden eingeräumt wird. Dem fügt Giddens schließlich die Unterscheidung zwischen Tag und Nacht als eine der »fundamentalsten Zonendemarkationen« hinzu, die die Teilung der gesellschaftlich normierten Sphären von Aktivität und Ruhe beschreibt. Allerdings haben sich durch künstliches Licht die »Möglichkeiten von nächtlichen Interaktionsbezugsrahmen dramatisch ausgeweitet«.10

    Dieser um die Tag-Nacht-Scheidung ergänzte Theorieansatz Giddens ist eine Möglichkeit, die dissidenten Interventionen durch Graffitis und Streetart als gestalterisch-subversive Aneignung von Räumen beschreibbar zu machen. Giddens’ Überlegung, der zufolge urbane Strukturen den Handelnden nicht nur gegenüberstehen, sondern unmittelbar in deren Handlungen einfließen, die dann zu neuen Strukturen führen, liest sich als unmittelbare Praxisanweisung für Graffitis und Streetart. Beide sind in diesem Sinne soziale Interaktionen in Form des Spacing, die durch die Setzung von Zeichen eine Kommunikation in den öffentlichen Raum im Wortsinne markieren und in diesen Raum gestalterisch eingreifen und ihn verändern. Diese Praktiken stellen als Akt der Übertretung gesellschaftlich akzeptierter Raumnahme zusätzlich ein Unterlaufen normierter Konformitätssetzungen dar, indem Graffitis bzw. Streetart zumeist in der Nacht stattfinden und bewusst die von Giddens beschriebene gesellschaftlich gesetzte Zeitzonendemarkation überschreiten. Illegale nächtliche Zeichensetzungen werden zu einer sozialen Praxis der Infragestellung des Anspruchs, die Herrschaft über den öffentlichen Raum uneingeschränkt autoritären Instanzen wie kommunalen Verwaltungen, privatwirtschaftlichen Akteuren und repressiven Organen wie der Polizei oder privaten Sicherheitsdiensten zu überlassen. Graffiti- und Streetart-Aktivisten bewegen sich mit ihren Bildern, Tags, Cut-outs, Schablonenbildern oder Roll-ons in einem nach Bourdieu von Machtbeziehungen strukturierten öffentlichen Raum. Sie schreiben sich mit ihren Techniken in die Oberflächen des physischen Stadtraums ein.

    Damit wird die zunächst vor allem soziale Praxis einer zeichensetzenden Kommunikation durch Graffitis und Streetart zu einer politischen Frage und möglicherweise sogar zur politischen Handlungsstrategie im urbanen Raum. Sie konterkariert den neoliberalen Sicherheitsdiskurs als Teil der Herrschaftssicherung. Damit wird potentiell der Anspruch der herrschenden Eliten, Überwachung, Kontrolle und Lenkung politischer Bewegungen im urbanen Raum sicherzustellen, bestritten.

    Der urbane Raum ist im Zusammenhang mit der weltweiten seit den 1970er Jahren betriebenen neoliberalen Wende selbst zum Schauplatz eines rasanten ökonomischen und sozialen Wandels geworden. Dieser Wandel lässt sich in den pointierten Worten David Harveys wie folgt zusammenfassen: »Die traditionelle Stadt ist von der zügellosen kapitalistischen Entwicklung zerstört worden, sie ist dem endlosen Bedürfnis, überakkumuliertes Kapital zu investieren, zum Opfer gefallen, so dass wir uns auf ein endlos wucherndes urbanes Wachstum zubewegen, das keine Rücksicht auf die sozialen ökologischen oder politischen Konsequenzen nimmt.«11 Privatisierungen staatlicher bzw. kommunaler Aufgaben sowie der Verkauf von z.B. kommunalen Wohnungsbeständen, die zunehmende Streichung staatlicher Leistungen für die sozialen Systeme, für Bildung und Kultur sowie die systematische Deregulation des Arbeitsmarktes sind Kennzeichen dieser Politik. Dem liegt die grundlegende politische Entscheidung zugrunde, »die Umverteilung des Reichtums sei vergebliche Mühe. Die Ressourcen sollten stattdessen auf dynamische ›unternehmerische‹ Wachstumszentren gelenkt werden.«12 An die Stelle des ehemaligen (sozial-)demokratischen Integrationsversprechens der Teilhabe an Wohlstand und gesicherter Lebensverhältnisse für möglichst alle ist der neoliberale Wettbewerb getreten, der jene ausschließt, die keinen Platz im neoliberalen (Arbeits-)Markt finden.

Die daraus resultierenden gesellschaftlichen Widersprüche werden nicht als soziale Problemlagen begriffen, denen mit politischen Konzepten begegnet wird, sondern als Sicherheitsproblem, das mit rein repressiven Strategien zu lösen ist. So soll der städtische Raum im Rahmen eines internationalen Standortwettbewerbs von Konflikten und sozialen Widersprüchen freibleiben. Da ehemals öffentliche Stadträume in attraktiven Lagen zunehmend privatisiert werden und als Konsum- und Investitionszonen Teil der kapitalistischen Wertschöpfung werden, erwächst daraus das Bedürfnis, durch ein autoritäres Kontroll- und Ausschlussregime der Polizei, der Ordnungsbehörden und privater Sicherheitsdienste unerwünschtes soziales Verhalten zu unterbinden und störende Personen zu vertreiben. Zugleich werden gesellschaftliche Konflikte nicht mehr mit den Regulationsmechanismen des sozialen Wohlfahrtsstaats abgefedert, sondern durch repressive Kontroll- und Sanktionstechniken eingedämmt. Gleichzeitig werden populistische stigmatisierende Ablenkungsdiskurse initiiert, mit denen durch die Beschwörung eines angeblichen Missbrauchs von Transferleistungen oder des Asylrechts und das Schüren der Kriminalitätsfurcht Abfuhrobjekte für die durch die staatliche Deregulation ausgelösten Unsicherheiten angeboten werden.

    Die daraus resultierenden Sicherheits- und Sauberkeitsdiskurse wurden Anfang der 1990er Jahre unter dem Label des sogenannten »Zero Tolerance«-Konzepts ausführlich diskutiert.13 Dieser Diskurs, der den Übergang von der Disziplinar- hin zu einer Kontrollgesellschaft markiert, hat in seiner medialen und gesellschaftlichen Rezeption in der Öffentlichkeit unmittelbar Zusammenhänge zu Graffitis und Streetart hergestellt. So behauptete die Hamburger Polizei, die Öffentlichkeit empfinde Graffitis als störend und »als Beeinträchtigung ihres Sicherheitsgefühls«. Die Berliner Senatsverwaltung verwandte in einer Sauberkeitskampagne Ende der 1990er Jahre unter dem Slogan »Nicht ganz klar. Wie der Typ« das Porträt einer eine Scheibe scratchenden Person, das offensichtlich die vorurteilsbehaftete Täterkategorie »jung, männlich, migrantisch« bildsprachlich inszenierte.

    Jan Wehrheim hat in seiner Arbeit Die überwachte Stadt den Zusammenhang zwischen der neoliberalen Stadt und den aktuellen Überwachungs- und Ausschlusstechniken unter den Aspekten von Sicherheit, Segregation und Ausgrenzung untersucht.14 Ein wichtiges Motiv benennt er mit dem Begriff physical disorder, demzufolge das Erscheinungsbild eines Quartiers zum Anknüpfungspunkt von Kriminalitätsfurcht und sich darauf beziehender sicherheitspolitischer Gegenstrategien wird. Die in den 1990er Jahren popularisierte Broken-Windows-Theorie verknüpft ein Wohnumfeld mit Merkmalen wie Vermüllung, verfallendem Leerstand und Graffitis zu einem neuen Problemkomplex des »gefährlichen Raums«. Dabei handelt es sich um ein soziales Konstrukt, denn die genannten »Probleme« werden im Vorfeld strafbarer Handlungen angesiedelt. Nicht zufällig werden eigentlich straffreie Verhaltensweisen im öffentlichen Raum wie der Konsum von Alkohol, das Betteln oder das kollektive »Abhängen« von Jugendlichen an Treffpunkten zum Anlass für polizeiliches Einschreiten. Im beschaulich gutbürgerlichen Stadtteil Hamburg-Volksdorf wurde beispielsweise im Jahre 2007 ein polizeiliches Gefahrengebiet eingerichtet, in dem »16–25-Jährige in Gruppen ab drei Personen oder Personen, die alkoholisiert sind und/oder sich auffällig verhalten« durch die Polizei kontrolliert wurden und denen Platzverweise erteilt werden durften.

    Wehrheim entwickelt unter den begrifflichen Vorzeichen von »Ästhetisierung und Sauberkeit« das zentrale ideologische Moment des neoliberalen urbanen Sicherheitsdiskurses: »Ein optisch sauberer Platz symbolisiert nicht nur, dass man sich an die heutzutage verinnerlichte Norm der Sauberkeit zu halten hat, sondern auch, dass dies der Raum der Etablierten ist resp. dass Außenseiter oder gesellschaftliche Gruppen, die mit dem Stigma der mangelhaften Sauberkeit belegt sind, in diesen Räumen nichts zu suchen haben.«15 Entsprechend stellen Graffitis eine besondere Provokation dar, da sie als materialisierter Regelverstoß den Konsens der Mehrheitsgesellschaft bezüglich des Erscheinungsbildes des öffentlichen Raums bestreiten. Wehrheim stellt dazu fest: »Beim Thema Graffiti verbinden sich folglich alle Aspekte einer umkämpften Stadt: Sauberkeit mit der Verdrängung von Nutzungsformen und Personen, Angstdiskurs mit Strategien zur Revitalisierung von Innenstädten sowie Kriminalitätsprävention mit der Okkupation von Raum.«16

    In Anknüpfung an die vorgestellten raumsoziologischen Theorien in Verbindung mit den repressiven autoritären Sicherheitsstrategien wird deutlich, dass die neoliberal organisierte Vermarktung der Stadt unkontrollierte Raumaneignungen als Infragestellung einer monopolisierten Verfügungsmacht nicht hinnehmen will. Mit großem Aufwand wird die Verfolgung und Kriminalisierung vor allem nächtlicher Graffitiaktivitäten von Polizei und Sicherheitsdiensten organisiert, die neben hohem personellen Einsatz sogar mit Hubschraubern und Nachtsichtgeräten betrieben wird.

    Auch OZ hat im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leibe die Folgen dieser Repressionstechniken erfahren. Eine Misshandlung durch Mitarbeiter der Hamburger S-Bahn-Wache wurde wohl nur deswegen mit einer rechtskräftigen Verurteilung der beiden Täter geahndet, weil eine Zeugin den Vorfall beobachtet hatte und vor Gericht bezeugen konnte. Als OZ hingegen durch einen Mitarbeiter der Hamburger U-Bahn-Wache ohne Zeugen schwer körperlich misshandelt wurde, ist das auf Betreiben seines Anwalts eröffnete Ermittlungsverfahren wegen angeblich mangelnden öffentlichen Interesses eingestellt worden. Mehrfach wurde OZ bei verschiedenen Festnahmen durch Polizeibeamte verletzt. Auch diese Anzeigen gegen die beteiligten Beamten wurden regelmäßig eingestellt.

    Es ist Teil einer kühl-rationalen Logik des neoliberalen Sicherheitskonzeptes, das Recht auf körperliche Unversehrtheit der ins Visier geratenen vermeintlichen Delinquenten wie OZ zu suspendieren. Der angebliche Schutz der Sicherheit der Mehrheitsgesellschaft wird zur kalkulierten Unsicherheit für die Objekte der Fahndung. Teil der repressiven Ahndung von unerwünschtem Verhalten ist eine Vor-Ort-Bestrafung der Betroffenen, die für die beteiligten Sicherheitsorgane im Regelfall folgen- und straflos bleibt. Ein Extremfall ist der Tod des US-amerikanischen Graffitikünstler Israel Hernandez in Miami/Florida im August 2013. Er wurde bei einer nächtlichen Sprüherei von einer Polizeistreife überrascht und verfolgt. Er starb an den Folgen eines gegen ihn durchgeführten Tasereinsatzes.

    OZ hat sich von der gegen ihn ausgeübten Repression nicht beeindrucken lassen. Im Gegenteil: Für OZ steht es nicht zur Debatte, die nächtliche Zonendemarkation nicht zu überschreiten, die Machtfrage um die Verfügung über den urbanen Raum nicht mehr zu stellen, durch die Markierung mit ihm zugerechneten Buchstabenkombinationen, Smileys, sogenannten »Pizzas«, Spiralen und manchmal auch Parolen. Die serielle Arbeit, die in der Wiederholung und zehntausendfachen Präsenz eine Qualität von Allgegenwart entfaltet, ist ein programmatisches Statement gegen den Anspruch der Polizei und privater Sicherheitsdienste auf Sauberkeit und Sterilität entsprechend eines neoliberalen Ideals der unternehmerischen Stadt. Plakativ gesprochen wäre OZ so etwas wie die Stadtguerilla im Kampf gegen Anti-Graffiti-Konzepte. Sein Manifest ist die Be-Zeichnung der Stadt. Akademischer ausgedrückt wird OZ zum Interpreten Pierre Bourdieus, indem OZ‘ Beharren auf dem Recht der gestalterischen Teilhabe am öffentlichen Raum ein Widerstandsakt gegen die vorauseilende Selbstexklusion ist.

Doch sind Beharrlichkeit und Leidensfähigkeit im Hinblick auf Misshandlungen und Übergriffe sowie eine unfreiwillige achtjährige Gefängniskarriere wegen Sachbeschädigungen schon Grund genug, OZ Arbeiten eine politische Qualität zuzuschreiben?

    Ulrich Blanché definiert in seiner Untersuchung über Banksy und Damien Hirst Streetart im engeren Sinne als Kunst im urbanen Raum, die nicht von Autoritäten wie Geldgebern, Hausbesitzern oder staatlichen Institutionen durch Geschmack oder Gesetz beschränkt ist, also niemandem direkt kommerziell dient.17 Der Akt des illegalen Anbringens ist eine Kommentierung kapitalistischen Konsums, weil er für nichts verkaufsfördernd und daher autonom ist. Damit ist ein wichtiger Unterschied zur Gallery Art, der es um den Verkauf geht und legaler Streetart als Auftragsarbeit mit einer oftmals kommerziellen Botschaft benannt.

    Streetart als Intervention in den öffentlichen Raum setzt sich von Werbung ab, indem Ortswahl und Interaktion mit der (Zeichen-)Umgebung einen Bruch mit traditionellen Sehgewohnheiten markieren und eine optische Irritation auslösen. Solche künstlerischen Strategien im Umgang mit einer visuell vermittelten Konsumwelt können zum subversiven Protest gegen die sinnliche Leere gegenwärtiger Stadtlandschaften werden.

    OZ’ Sprühereien haben diese Qualität. Seine bunten »Pizza«-Arbeiten stechen aus den Stadtlandschaften hervor. Kästen oder Begrenzungselemente werden mit einfach gesprühten Gesichtern maskiert und treten den Betrachtenden face to face gegenüber. Spiralen, Smileys und Tags sind die Signatur einer sich im öffentlichen Raum sichtbar machenden Individualität, die sich gegen die anonymisierende Unsichtbarkeit wehrt. OZ steht in einer Kontinuität zu römischen Taggern, die sich auf den Hauswänden in Pompeji verewigt haben, wie zu Joseph Kyselak, der zwischen 1825 und 1831 in Österreich auf Bauten wie auf Felswänden seinen Namen hinterließ. Oder zu den sowjetischen Soldaten, die im Mai 1945 ihre kyrillischen Tags im Reichstagsgebäude zurückließen. Sein Hamburger Mitstreiter im Geiste ist Peter Eiffe, der 1968 innerhalb weniger Wochen mit gesprühten flapsig-anarchischen Sprüchen Bekanntheit erlangte. Eiffe gilt als der erste Graffitikünstler Deutschlands. Zunächst erlangte er mit Slogans wie »Sei keine Pfeife, wähl Eiffe«, »New York, Tokio, Wandsbek: Eiffe für alle« oder »Eiffe for president, alle Ampeln auf gelb« lokale Berühmtheit. Nachdem er im Mai 1968 in einem mit »Freie Eiffe-Republik« beschrifteten Auto in die Wandelhalle des Hamburger Hauptbahnhofs fuhr, wurde er festgenommen und in eine psychiatrische Klinik verbracht.

    David Harvey weist allerdings richtigerweise darauf hin, dass kritische Kommentierungen zu einer Falle werden, wenn sie als subkulturelle Kunstinszenierung zur »Anhäufung von symbolischen Kapital und der Ansammlung von Distinktionsmerkmalen« instrumentalisiert werden. Dann droht Streetart Teil einer Vermarktungsstrategie im Standortwettbewerb der Metropolen und der kulturellen Wertschöpfung zu werden und zugleich Gentrifizierungsprozesse zu befeuern.

    Eine Kritik daran ist daher notwendig und wichtig. Aber man sollte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, wie es Radek Krolczyk in seinem Beitrag Gegen Streetart unternimmt.18 Dort qualifiziert er Streetart pauschal als eine »äußerst langweilige und mitnichten revolutionäre Angelegenheit« ab. Er schreibt flott und polemisch gegen die Vereinnahmung von Streetart für die kapitalistische Wertschöpfung und ihre Instrumentalisierung für städtische Standortinszenierungen. Dabei verwechselt er allerdings den Gegenstand mit seinen illegalen Praxen mit der kommerziellen Vermarktung in Galerien und im Stadtmarketing. OZ’ Arbeit auf der Straße ist nicht dadurch entwertet oder verraten, nur weil er sich zu einigen Ausstellungen hat überreden lassen, um seine Anwälte bezahlen zu können, die OZ wegen seiner illegalen Aktivitäten vor weiteren Haftstrafen bewahrt haben.

    Andreas Reckwitz’ Untersuchung zur Verschränkung von künstlerischer Arbeit, Kreativität und gesellschaftlicher Verwertung benennt präziser die Fallstricke, in die konsum- und gesellschaftskritische Kunst sich verfangenen kann.19 Reckwitz weist auf die die Marx’sche Feststellung hin, dass in der kapitalistischen Ökonomie der Prozess der Kapitalakkumulation und der Generierung von Mehrwert nie zu einem Ende kommt. Diese Dynamik unterminiert alle Lebens- und Arbeitsbereiche durch immer neue Strategien zur Ausweitung der Warenmärkte. In diesem Kontext sehen sich »postmoderne Künstlersubjekte« einem Markt gegenüber, der sie unter dem Label der Kreativität als »Arrangeur ästhetischer Prozesse« funktionalisiert. Daraus entsteht eine Kunstproduktion, die, unkritisch betrieben, zu einer medial und marktkonform konsumierbaren Inszenierung der kreativen Industrien verkommt.

    OZ’ Flucht in die Illegalität ist so gesehen als Schutz vor einer Vereinnahmung im doppelten Sinn zu sehen. Es ist zum einen die Verweigerung des neoliberalen Kontroll- und Disziplinaranspruchs auf angepasstes Verhalten. Zum anderen wird das Beharren darauf, dass der öffentliche Raum als öffentlicher Raum auch nur dort verteidigt werden kann, zum Garanten, sich der musealen und marktförmigen Verwertung zu entziehen und nicht zum subkulturellen Distinktionsgewinn des Standorts Hamburg beizutragen.

    OZ’ Arbeiten sind als Zeichen des Bewegens in der Stadt ein Beitrag für eine politische Bewegung, die das Recht auf Stadt als einen Ort des ungehinderten und freien Austauschs der Menschen reklamiert.

    Möglicherweise gehört OZ mit seiner künstlerischen nonkonformistischen Haltung zu den letzten echten Situationisten, deren Ideal des »unitären Urbanismus« das konsumierbare künstlerische Spektakel unterlaufen sollte.20 Durch das ziellose und forschende Umherschweifen im städtischen Raum, das OZ nächtlich zeichenmarkierend betreibt, praktiziert er eine Form der Wiederentdeckung und zugleich der Verteidigung des städtischen Raumes, die sich einem Ideal der lebenswerten Stadt für alle verpflichtet fühlt.


Fußnoten


1 »Ich staune, Wand, dass du nicht zerfallen bist, da du so viel / Blödsinn von Schreibern ertragen musst.« Graffitikritisches historisches Graffiti auf einer Wand in Pompeji, zitiert nach: Glücklich ist dieser Ort! 1000 Graffiti aus Pompeji, Stuttgart 2011.

2 Helga Cremer-Schäfer, Heinz Steinert: Straflust und Repression, Münster 1998.

3 Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen – Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes, Frankfurt/Main 2006. (Inhaltsverzeichnis)

4 Empfohlen sei an dieser Stelle als weiterführende Lektüre der Sammelband Katrin Klitzke, Christian Schmidt (Hg.): Street Art. Legenden zur Straße, Berlin 2009.

5 José Guilherme Cantor Magnani: Kreisläufe, Routen und Reviere, in dem lesenswerten Sammelband: Anne Huffschmid, Kathrin Wildner (Hg.): Stadtforschung aus Lateinamerika, Bielefeld 2013. (Inhaltsverzeichnis und Auszug)

6 Schroer, a.a.O., S. 89.

7 Wolf-Dieter Narr, Alexander Schubert: Weltökonomie. Die Misere der Politik, Frankfurt/Main 1994, zitiert nach Schroer, a.a.O., S. 90.

8 Richard Sennett: Civitas – Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, Frankfurt/Main 1991, S. 261ff.

9 Schroer, a.a.O., S. 113.

10 Ebd., S. 116 f.

11 David Harvey: Rebellische Städte, Frankfurt/Main 2013, S. 19f. (Auszug)

12 Ebd., S. 68.

13 Exemplarisch: Gunther Dreher, Thomas Feltes (Hg.): Das Modell New York: Kriminalprävention durch »Zero Tolerance«?, Holzkirchen 1997; Joachim Häfele: Kontrollierte Konsumtionslandschaften. Beobachtungen zur sicherheitspolitischen Organisation urbaner Räume der Gegenwart, Hamburg 2011.

14 Jan Wehrheim: Die überwachte Stadt, Opladen 2002.

15 Wehrheim, a.a.O., S. 103.

16 Wehrheim, a.a.O., S. 110.

17 Ulrich Blanché: Konsumkunst. Kultur und Kommerz bei Banksy und Damien Hirst, Bielefeld 2012. (Inhaltsverzeichnis und Auszug)

18 Radek Krolczyk: Gegen Streetart, in: Annette Emde, Radek Krolzyk (Hg.): Ästhetik ohne Widerstand. Texte zu reaktionären Tendenzen in der Kunst, Mainz 2013.

19 Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt/Main 2012. (Auszug)

20 Siehe dazu auch Annika Lorenz: Verbieten ist verboten, in: Klitzke, Schmidt, a.a.O., S. 34-50.


Druckfahne »All City King – OZ und der städtische Raum« (pdf)

Hinweis: Dies ist die Online-Version des Buchs »Free OZ! Streetart zwischen Revolte, Repression und Kommerz», das 2014 im Verlag Assoziaton A erschienen ist. Es ist inzwischen vergriffen, als Würdigung seines Werks und als Inspiration für die zukünftige Auseinandersetzung mit Walters Schaffen ist es hier dokumentiert.